„Die Stimmen sind alle wie nackt“

Zart statt pompös: Opernchöre sind Spezialisten des großen
Auftritts. Wucht müssen sie entfalten, überwältigen, kollektiven
Schauder auslösen. Grund genug, sich mit den SängerInnen aufs
Abenteuer Kammermusik einzulassen, sagt Chordirektorin Alice Meregaglia und
präsentiert ein Programm von gespenstischem Schubert bis zu ätherischem Fauré

Gabriel Fauré schrieb sein Requiem mehr so zum Vergnügen Foto: Zeichnung: John Singer Sargent

Interview Benno Schirrmeister

taz: Frau Meregaglia, warum macht der Opernchor Kammermusik?

Alice Meregaglia: Ich wollte mit ihm genau dieses Konzert mit genau diesem Repertoire machen, weil das völlig ohne den Pomp der Oper auskommt. Der erlaubt ja manchmal, sich hinter der Quantität zu verstecken: Die Schönheit lässt sich da mit mehr Volumen erzwingen oder vortäuschen.

Bei Kammermusik geht das nicht?

Nein, die lässt das nicht zu. Deswegen liebe ich Kammermusik mindestens genauso viel wie die Oper, die ich erst später für mich entdeckt habe: In diesen Stücken sind die Stimmen immer erkennbar, sie sind alle wie nackt. Da kann sich niemand verstecken. Solche Musik klingt nur gut, wenn 100 Prozent Spannung da sind und 100 Prozent Präsenz – und, sehr wichtig, statt durch Größe entsteht die Schönheit im Detail. Das schärft das Bewusstsein fürs eigene Singen und erweitert die Möglichkeiten der eigenen Stimmen: Bei Schubert zum Beispiel …

… im Gesang der Geister über den Wassern für Männerchor …

… da müssen die Herren in sehr hoher Lage mit Kopfstimme und Falsett singen: Das ist ungewohnt, aber sie machen es sehr gut.

Durchs Programm ziehen sich das Wassermotiv und die Trauer: War das wichtig für die Auswahl?

Wichtiger war eigentlich die Steigerung, also dass sich die Besetzung allmählich aufbaut, von klein zu groß: Bei den „Vier Liedern für Frauenchor“ von Johannes Brahms haben wir ja nur zwei Hörner und Harfe als Begleitung, beim Schubert stehen die tiefen Streicher neben dem Männerchor. Und beim Fauré sind wir alle zusammen und es gibt ein ganzes Orchester. Trauer? Ich weiß nicht, ob es darum wirklich geht.

Bei einem Requiem läge das nahe.

Natürlich ist das ein Requiem. Aber es hat ja auch gar keinen Anlass gehabt. Keine richtige Trauer. Das ist für mich eher melancholisch.

Gabriel Fauré hat sogar gesagt, er hat es zu seinem eigenen Vergnügen geschrieben …

Foto: Landsberg/Theater Bremen

Alice Meregaglia,

35, ist seit 2017 Chordirektorin des Opernchors am Bremer Theater und unterrichtet an der Hochschule für Künste.

Ja, das Requiem ist mehr ein Vorwand, um die Finesse seiner Musik zu demonstrieren – er hat es ein Wiegenlied für den Tod genannt. Das hat eher etwas von einem Aufbruch als von einem Ende. Vielleicht, wenn jetzt jemand an Seelenwanderung glaubt oder an Wiederegburt …

Dabei war Fauré ja eher ein Agnostiker!

Das stimmt: Es geht nicht um Religion, sondern um Hoffnung. Der Tod ist eine Möglichkeit, kein Ende. Deshalb endet das Requiem ja auch nicht mit einem Tag des Zorns, wie sonst üblich, sondern ganz oben, In Paradisum: Das ist eher ein Leitmotiv unseres Programms, die zyklische Anlage, die Wiederkehr des Lebens und die Hoffnung darauf.

Und wer singt das berühmte „Pie Iesu“-Solo?

Die Soli sind aus dem Chor besetzt, jeweils doppelt: Beim Offertorio wechseln sich Daniel Ratchev und Alberto Gallo ab, und das „Pie Jesu“ singt mal Maria Martin Gonzales, mal KaEun Kim. Mitunter wird das ja von einem Kind gesungen, einem Knabensopran. Aber ich finde, die Farben sind so besser: Das ist eine regelrechte Zen-Musik, eine echte Meditation.

So, 18 Uhr, sowie 26. 4., 4. 5., 1. 6., 19.30 Uhr, 19. 5., 18 Uhr, Goetheplatz