Der Punk und sein vergeistigter Bruder

Bei einem Abend im Konzerthaus am Gendarmenmarkt wardas Stück „Berlin Punk“ von Enjott Schneider zuerleben

Das Clair-obscur Saxophonquartett Foto: Boris Streubel.

Von Robert Mießner

Zu einem Punkkonzert für die ganze Familie kam es am Sonntagabend, zur Sandmännchenzeit, um genau zu sein, im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin-Mitte. Wie der Punk in den Großen Saal des klassizistischen Gebäudes, eines der Hauptwerke des preußischen Architekten Karl Friedrich Schinkel, gelangte, dazu später, denn am Anfang des Abends stand ein sehr tiefes Brummen zweier Kontrabässe, in das sich Pauken und etliche Holzblasinstrumente einschalteten.

Das war regelrechter Ambient, freilich aus einer Zeit, da es diesen Begriff noch gar nicht gab: Zu hören war „Paris. Ein Nachtstück“ des englischen Komponisten Frederick Delius vom Beginn des 20. Jahrhunderts, eine der vier Kompositionen, die das Brandenburgische Staatsorchester Frankfurt unter der Leitung des in Paris gebürtigen Dirigenten Marc Piollet zur Aufführung brachte. Eine Komposition für Synästhetiker, Delius habe mit den Ohren gesehen und den Augen gehört, ist im Programmheft zu lesen.

Der Komponist selbst schrieb über sein Stück, es „beschreibt meine Eindrücke von Nacht und frühem Morgengrauen mit seinen eigenartigen Straßenschreien und Pans Ziegenhirten usw.“. So gesehen war in einer musikhistorischen Vorwegnahme vor den Punk sein geringfügig jüngerer, leicht vergeistigter Bruder gesetzt worden: der Darkwave, welcher sich hier von seiner durchaus vorhandenen lebensbejahenden Seite zeigen durfte. Der Punk wiederum trat alsdann so auf, wie das von ihm landläufig erwartet wird: lautstark dröhnend, blechern polternd. Zum Orchester gesellte sich das Clair-obscur Saxophonquartett, bestehend aus Kathi Wagner (Bariton), Christoph Enzel (Tenor), Maike Krullmanns (Alt) und Jan-Schulte-Bunert (Sopran).

Gemeinsam gaben sie das Stück „Berlin Punk“ des deutschen zeitgenössischen Komponisten Enjott Schneider. Wer Filme wie „Stalingrad“ oder „Schlafes Bruder“ gesehen hat, hat auch die Musik Schneiders gehört. Und vielleicht liegt darin das Problem von „Berlin Punk“: Das Stück möchte bebildern, was aber sein eigenes Bild bereits mit Vehemenz entworfen und vertreten hat, nämlich Punk.

Immerhin, die zappeligen Knirpse aus Reihe fünf, die es bei Delius kaum auf den Stühlen gehalten hatte, hielten nun inne und staunten, was in einem klassischen Konzert so möglich ist. Dennoch waren es die von Schneider eingestreuten ruhigeren Passagen, die überzeugten. Und, wenn im Programmheft steht, Punk habe sich „wie Flächenbrand vor allem in Kreuzberg, dann auch nach 1989 im Osten“ ausgebreitet, müssen wir ein letztes Mal erklären, dass der Osten Punk nicht nur erfunden, sondern zu Prokofjew gepogt hat. Einstweilen geht ein Päckchen mit der einschlägigen Fachliteratur raus.

Die Entdeckung des Abends: „Der Kreml“ von Alexander Glasunow

In der Pause war vor dem Konzerthaus ein einsamer Straßenmusikant zu hören, er spielte Bruce Springsteens Klassiker „I’m on Fire“. In der zweiten Konzerthälfte dann das Bravourstück und die Entdeckung des Abends, „Der Kreml“ des russischen Komponisten Alexander Glasunow. Das 1887 entstandene sinfonische Gemälde gliedert sich in drei Teile: „Volksfest“ geriet zu dem, was der Titel verspricht. „Im Kloster“ hatte Tiefe, Versunkenheit gar, Streicher und Holzbläser, konterkariert durch Glocken und Flöten. Man konnte sich Delius’ Pariser Flaneur vorstellen, wie er den Ruf der Nacht endlich ausschlägt. Mittendrin war zweimal ein fast schon orientalisch anmutendes Motiv zu vernehmen, ein Loop, wie man heute sagen würde. Glasunow, dem eine konservative und klassizistische Ästhetik attestiert wird, hier klang er ganz modern.

„Einzug und Auszug des Prinzen“ rief dann das ganze Orchester mit Wucht auf den Plan. Der Abend, eine musikalische Städtereise, begann in Paris, führte über Berlin nach Moskau und sollte dort auch enden. Den Schlusspunkt bildete Dmitri Schostakowitschs „Moskau-Tscherjomuschki“-Suite, ein Stück, das den sowjetisch-russischen Komponisten von einer Seite zeigt, die man bei ihm nach dem Zweiten Weltkrieg, der Leningrader Blockade und Stalin nicht erwartet hätte, es zeigt den Schostakowitsch, der „fröhlich wie ein Kind“ Fußballfan und -chronist war, wie Martin Krauß im vorigen Jahr in der taz erzählte (taz v. 11. 6. 2018).

„Moskau-Tscherjomuschki“ ist eine Komposition für eine gleichnamige musikalische Komödie aus dem Jahr 1958, Schostakowitsch gab der Sowjetsatire eine musikalische hinzu. Die Aufführung am Sonntagabend hatte zirkushafte Momente (wann hat schon mal der Dirigent das Publikum beim Mitklatschen angeleitet?), der Applaus wanderte von den Händen in die Füße.