Nasi und das Bolzenschussgerät

Von Ilka Kreutzträger

Ich hatte mal ein Pony. Der kleine Wallach gehörte mir, weil der Reiterhof, auf dem er lebte und auf dem meine Schwester und ich unsere halbe Kindheit verbracht haben, abgebrannt ist, die Besitzer nicht ausreichend versichert waren und mein Vater ihnen mein hellbraunes Pony darum für einen irrwitzigen vierstelligen D-Mark-Betrag abgekauft hat. Dieses Pony mit heller Mähne habe ich sein ganzes Leben begleitet, von seinen ersten Schritten auf staksigen Beinen im schrottigen Stall bis zu seinem Tod auf dem Grünstreifen gegenüber seiner letzten Weide in einem winzigen Ort in Niedersachsen nahe Rotenburg an der Wümme. Ich bin nie wieder dahin gefahren. Bin damals einfach in mein Auto gestiegen während sein Kadaver noch an dem kleinen Kran des Schlachter-Autos baumelte und bin weggefahren.

An die Rückfahrt nach Hamburg kann ich mich bis heute nicht erinnern. Wohl aber daran, wie weich der Pony-Hals war, um den ich ungezählte Male meine Arme geschlungen habe, daran, wie mein Pony beim Ausritt ständig Gras, einen Ast oder sonst was zu kauen im Maul hatte, an seine Angst, durch Tunnel oder unter Autobahnunterführungen hindurch zu gehen, die er nur mir zuliebe überwand und nach viel gutem Zureden geduckt und mit ausholenden Schritten durch sie hindurchraste. Daran, wie er mir zur Begrüßung, oder einfach nur so aus Zuneigung, seine unendlich weichen Nüstern (darum habe ich ihn Nasi genannt) ins Gesicht streckte und vorsichtig pustete. Und an sein tiefes, rollendes Wiehern, wenn ich an seine Weide kam und wie er dann von hinten loslief, zu mir.

Am Ende konnte er nur noch langsam auf mich zugehen, weil seine Arthrose in den Knien so schlimm geworden war. Er hatte einen leichten Drall nach rechts, musste immer wieder anhalten, um die Richtung zu korrigieren, beeilte sich aber trotzdem, um mich anzustupsen und mir ins Gesicht zu pusten. Auch an dem Tag, der sein letzter war, kam er so zu mir. Er hat mir vertraut, er wusste, dass ich ihm nie was Böses wollte. Und dann habe ich den Schlachter gerufen, damit er ihn umbringt, mitnimmt und seinen Körper verwertet. Viel ging da nicht, Nasi war ein altes Pony, aber der Abdecker kann immer noch was gebrauchen.

Es gab keine andere Möglichkeit, ich hätte ihn operieren lassen können, aber er war über 20 Jahre alt und es hätte ihm viel Stress, eine Narkose, einen Klinikaufenthalt und vielleicht nur eine kleine Weile Erleichterung verschafft. Ich hätte ihn mit Kortison vollpumpen lassen können, dann hätte er zwar kurz keine Schmerzen mehr gehabt, aber die wären wiedergekommen – und zwar schlimmer als zuvor. Ich konnte nichts tun, außer ihm den nächsten Winter ersparen, denn im Winter wird Arthrose schlimmer, der Boden auf der Weide schwerer, das Laufen und Stehen eine Qual. Ich habe seine Tierärztin gefragt, was ich tun soll, ob ich ihn einschläfern lassen kann. Sie war deutlich: Wer sein Tier liebt, holt den Schlachter, der weiß, was er tut, es geht schnell und die Tiere verbinden ihn mit nichts Schlechtem, anders als den Tierarzt mit Spritze, der nur Stress auslöst. Also habe ich den Schlachter herbestellt. Habe Nasi das Halfter übergestreift und ihn vom Hof geführt. Geschlachtet wird nicht auf der Weide, wo die anderen Pferde stehen, das ist für die Tiere zu traumatisch.

Der Schlachter hat freundlich mit Nasi gesprochen, Nasi hat sich an ihm geschubbert, der Schlachter hat seine Nase gestreichelt, seine Stirn gerubbelt, das Bolzenschussgerät angesetzt – und: Wusch! Ich kann mich viel zu genau daran erinnern, wie mein Pony an jenem sonnigen Herbsttag neben mir zu Boden sank und wie laut sich sein Darm entleerte als seine Muskeln im Tod erschlafften und ich noch dachte: Ah, siehste! Wieso fragen sich Kommissare im „Tatort“ und so immer, ob die Menschen, die sie da im Gebüsch oder so finden, eigentlich tot sind und darum den Puls fühlen, wenn sich mit dem Eintritt des Todes doch der Darm entleert … Und ich weiß noch, wie das Blut aus dem Loch in Nasis Stirn lief und die Blesse färbte. Da hatte ich kein Pony mehr.