Micha Brumlik
Gott und die Welt
: Ohne die liberale Kritik des Liberalismus ist dieser nicht zu haben

Immer häufiger einigen sich mehr oder minder politisch resignierte Angehörige von 68 darauf, dass – nehmt alles nur in allem – der Liberalismus das schlechteste doch nicht sei. Zu diesem Ritual gehören dann jedoch auch entschiedene Einsprüche – gerne mit Zitaten von Klassikern unterlegt. Zuletzt machte mich ein Kollege auf folgende Bemerkung aus Adornos 1951 erstmals publizierten „Minima Moralia“ aufmerksam – geschrieben wohl schon 1944. Im Aphorismus „Zurück zur Kultur“ lesen wir: „In ihrer Breite“, so Adorno „lechzte die deutsche Kultur, gerade wo sie am liberalsten war, nach ihrem Hitler.“

Wie? Der Berliner Politologe Jens Hacke hat kürzlich den Versuch unternommen, dieses Verdikt zu widerlegen. In seinem soeben erschienen Buch „Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit“ weist er nach, dass und wie damals Fragen verhandelt wurden, die uns auch heute umtreiben. Allen voran die nach dem spannungsgeladenen Verhältnis von „Liberalismus“, also der rechtlichen Institutionalisierung von individueller Autonomie und „Eigentum“ hier, sowie von „Demokratie“ als jener Herrschaftsform, die den Willen einer Mehrheit verkörpert, dort.

Und Adorno? Den Aphorismus lesend, kam mir eine Episode in den Sinn, die uns während des Philosophiestudiums im Frankfurt der 1960er Jahre sehr erregte. Ein systematischer Transzendentalontologe, Professor Wolfgang Cramer, selbst ehemaliges Mitglied der NSDAP, glaubte aufgedeckt zu haben, dass ­Adorno 1934 Vertonungen von Gedichten des nationalsozialistischen Jugendführers Baldur von Schirach bejubelt hatte. Es ging um Herbert Müntzels Vertonung eines Zyklus für Männerchor, über die Adorno schrieb, dass es sich um Musik im Geiste des romantischen Realismus von Goeb­bels handle. Spätere Interpreten dieser Rezension wollten in ihr eine die Zensur umgehende Tarnsprache erkennen. Hannah Arendt jedoch schrieb 1966 in einem Brief an Jaspers von einem „misslungenem Gleichschaltungsversuch“ Adornos.

Aber wie dem auch sei: Die hier nur kurz erwähnte Episode zeigt, dass Adornos noch in den „Minima Moralia“ niedergelegte Behauptung entweder nicht stimmte oder er sich am Ende selbst meinte. Seine nicht weiter belegte Behauptung traf einfach nicht zu – schon gar nicht auf wirklich bedeutende Liberale der Weimarer Republik wie Thomas Mann, der als ehemaliger Konservativer mit seiner Rede „Von deutscher Republik“ aus dem Jahr 1922 den Hass aller Völkischen auf sich zog.

Der Thomas Mann jener Jahre war damals gleichwohl kein „Linker“, sondern eben ein „Liberaler“ und wurde auch so wahrgenommen. Mit ihm stand Adorno übrigens in Kalifornien in den 1940er Jahren bei der Abfassung des Romans „Dr. Faustus“ in engem Kontakt. Zudem: Schon gar nicht passt Adornos liberalismuskritische Bemerkung zu späteren Äußerungen aus den 1960er Jahren, etwa zum ersten, der FDP angehörigen Bundespräsidenten Theodor Heuss, der im Reichstag als Liberaler Hitlers Ermächtigungsgesetz zugestimmt hatte. Ihm, Theodor Heuss, attestierte Adorno in einer Rede nach dem Kriege, dass mit ihm die Humanität zu einer Kraft in Deutschland geworden sei.

Es war die „Frankfurter Schule“, die die „intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“ bewirkt hat

So führt am Ende denn doch nichts an der Einsicht vorbei, dass es zumal die „Frankfurter Schule“ war, die die „intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“ (Clemens Albrecht) bewirkt hat. Dass das ohne eine selbst noch liberale Kritik des Liberalismus nicht möglich war, dürfte einleuchten.

Micha Brumlik ist Mitarbeiter am Zentrum für Jüdische Studien und lebt in Berlin.