das portrait
: Estlands kommende Ministerpräsidentin Kaja Kallas steht für „Leistung und Ehrgeiz“

Foto: Raul Mee/ap

Ist sie wirklich die Richtige? Parteivorsitzende haben naturgemäß „zu liefern“ – und Kaja Kallas hatte in ihrem ersten Parlamentswahlkampf nach Ansicht vieler in ihrer Partei damit offenbar Probleme. Die Kritik: Ihr Auftreten wirke zu unsicher, in Debatten lasse sie sich zu leicht überfahren. Die Umfragen unter den estnischen Wählerinnen und Wählern waren enttäuschend und sahen Kallas’ rechtsliberale Reformpartei meist hinter der schärfsten Rivalin, der sozialliberalen Zentrumspartei. Zu wenig für die erfolgsgewohnten Rechtsliberalen, die abgesehen von den letzten zweieinhalb Jahren zwei Jahrzehnte lang in jeder estnischen Regierung vertreten waren.

Doch als ab Sonntagabend nach und nach die Ergebnisse des E-Voting bekannt wurden, verstummten alle Zweifel. Kallas hatte die Reformpartei zu einer unerwartet deutlichen Wahlsiegerin gemacht, und auf der Topliste der persönlichen Stimmen aller ParlamentswahlkandidatInnen steht die 41-Jährige nun auf dem ersten Platz. Erstmals seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion dürfte mit ihr in Estland nun eine Frau das Ministerpräsidentenamt übernehmen.

Kallas absolvierte ein Jura-Studium an der Universität Tartu und arbeitete als Anwältin. 2010 trat sie der Reformpartei bei, ein Jahr später wurde sie erstmals ins Parlament gewählt. 2014 wechselte sie ins EU-Parlament, wo sie der ALDE, der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa, angehörte. In Brüssel beschäftigte sie sich hauptsächlich mit Digitalisierungsfragen. Seit einem halben Jahr ist sie mit dem Investmentbanker Arvo Hallik verheiratet. Das Paar zieht drei Kinder aus früheren Ehen gemeinsam groß.

Im April 2018 wurde Kaja Kallas zur Vorsitzenden ihrer in einen liberalen und einen konservativen Flügel gespaltenen Partei gewählt. Ihr größtes Problem werde es sein, aus dem Schatten ihres Vaters herauszutreten, waren sich damals viele Medienkommentatoren einig. Jener, Siim Kallas, war Zentralbankdirektor in Estland und hatte die Reformpartei 1994 gegründet, war dann Ministerpräsident und später Vizepräsident der EU-Kommission. Sie werde versuchen „die Partei in meine Richtung zu lenken“, antwortete Kaja Kallas auf entsprechende Pressefragen, und von ihrem Vater lasse sie sich dabei gerne beraten.

Kallas gilt als Liberale, enttäuschte diesen Parteiflügel aber zuletzt mit einem Zickzackkurs zum UN-Migrationspakt. Im Umgang mit der rechtsextremen EKRE-Partei zeigt sie dagegen klare Kante: Eine Zusammenarbeit sei „undenkbar“. Anders meldete sich ihr Vater zu Wort: Das Wichtigste für die Reformpartei sei es doch, an der Macht zu bleiben.

Soziale Reformen werden von einer Ministerpräsidentin Kallas wohl nicht zu erwarten sein. Ihre einzige Wahlkampfbotschaft dazu: die Kindergartengebühren abschaffen. Den Kern ihrer Politik umreißt sie so: „Förderung des freien Unternehmertums, Leistung und Ehrgeiz müssen sich lohnen und dürfen nicht bestraft werden.“ Reinhard Wolff, Stockholm

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