Auf ewig im Wilden Westen

Auf Kampnagel lädt der Autor, Regisseur und Schauspieler Dennis Seidel vom inklusiven Ensemble „Meine Damen und Herren“ in eine ewige Ponyhof-Westernwelt

Szenisches Selbstporträt mit ganzem Einsatz: Dennis Seidel alias Christina Johnsson Foto: Simone Scardovelli

Von Robert Matthies

Das immer Gleiche kehrt wieder, unendlich wiederholen sich alle Ereignisse: Für Friedrich Nietzsche war der Gedanke der ewigen Wiederkehr die „höchste Formel der Bejahung“. Dass man es so, wie es war und ist, für immer haben will; kein besseres, sondern das Leben genau so: das unbedingte Ja-Sagen zum Dasein.

Dennis Seidels Western-Welt, in die der Autor, Regisseur und Schauspieler „mit amtlich bescheinigter ‚geistiger Behinderung‘“, wie der Waschzettel zum Stück formuliert, am Donnerstagabend auf Kampnagel einlud, darf man sich wohl als Ergebnis eines solchen unbedingten Ja-Sagens vorstellen.

Immerzu kreist darin die von einem E-Rolli angetriebene Drehbühne um sich selbst, kreist das Stück um die von Seidel gespielte zentrale Figur der Autorin Christina Johnsson. Und immer wieder finden in „Zehn Meter in den Wilden Westen“ dieselben Figuren in leicht abgewandelter Form zueinander, sterben, kehren wieder zurück. Und am Ende beginnt alles von vorn. „Für immer der Wilde Westen“, singen Seidel und die Musikerin Fee Kürten aka Tellavision.

Dabei gab es das noch nie zuvor: dass ein Mensch mit „geistiger Behinderung“ als künstlerischer Leiter eine abendfüllende Theaterproduktion realisiert. Seidel ist allerdings in der Welt des inklusiven Theaters längst ein Star. Seit 2003 gehört er dem Hamburger Ensemble „Meine Damen und Herren“ an. Wie die Band Station 17 (siehe auch Seite 46), bei der auch Seidel mal Mitglied war, ist es Teil des inklusiven Netzwerks Barner 16.

Und Seidels erstes Stück ist „Zehn Meter in den Wilden Westen“ auch gar nicht. 2015 sorgte er mit seiner Soloperformance „Ordinary Girl“ beim Berliner „No Limits“-Festival für Furore, in der er die verwaiste Modedesignerin Jolina aus Miami spielte.

Zwei Jahre später war Seidel dort mit seiner ersten Ensemblearbeit „Der Tag, an dem Kennedy ermordet wurde und Mimmi Kennedy Präsidentin wurde“ zu Gast. Darin berichtet er als Reporterin Liv Split vom Attentat auf Kennedy, gerät selbst unter Verdacht und überführt schließlich die echte Täterin: eine Barbiepuppe.

Auch diesmal spielen Barbiepuppen eine Rolle. Denn was Seidel auf die Bühne bringt, sind szenische Selbstporträts, eigenwillige Welten, in die er sich selbst mit einem unbedingten, vollkommen unironisch wirkenden Ja-Sagen zu sich selbst hineinkopiert – als andere, nämlich immer als Frau. „Manchmal fühle ich mich, als wäre ich selbst in meiner Geschichte verschwunden“, stellt sich Autor Seidel als Autorin Johnsson zu Beginn des Stücks vor: „Manchmal kann ich auch aus mir ausbrechen und meine Emotionen zeigen. Dann bin ich nicht mehr zu bremsen.“

Und völlig ungebremst und hochemotional erzählt Seidel auch seine ausufernde Geschichte: Zehn Meter nur neben dem Wilden Westen lebt Christina Johnsson in einer Hamburger Wohnung. Zwei Schwestern hat sie, Janina und Jolene, die wiederum als „gute Westernheldin“ Jolene Evans die Bewohnerinnen von Dawsons Creek, ausschließlich Frauen, vor der „bösen Westernheldin“ Tatjana Thorns beschützt, die vor zehn Jahren dort die Eltern der Johnsson-Schwestern ermordet hat.

Das weitere Personal: Jolene Evans’ schießwütige Gefährtin Michelle Jackson, eine weitere gute Westernheldin, eine weitere böse Westernheldin, zwei Sheriffdamen, zwei Bardamen, das singende Pferd Blue Jeans und ein sprechender Esel, dazu ein sprechender Stoffhund und eine Barbiepuppe.

Nicht immer ist es leicht, im Verlauf des Abenteuers den Überblick zu behalten, wer nun gerade wen erschossen hat in einem dieser zahllosen Plastikwaffen-Massaker in Prärie oder Saloon und wer wen ersetzt, um später ebenso erschossen zu werden.

Aber all das ist vielleicht auch nicht so wichtig. Denn viel spannender ist es, Seidel dabei zuzusehen, wie er tatsächlich immer wieder in seiner Geschichte zu verschwinden scheint; ihm zuzuhören, wenn er mit bebender Stimme ganz unverstellt über den Verlust seiner Figuren klagt. Dann scheint es kaum einen Unterschied mehr zu geben zwischen Fiktion und Realität. Unbedingter kann man nicht sagen: So will ich es.

Sa, 2. 2., 20 Uhr, und So, 3. 2., 18 Uhr, Kampnagel