Der Schreckensmann

Zum 200. Todestag von Johann Karl Wezel

Foto: Abb.: Archiv

Von Frank Schäfer

Nach der kurzen, steilen Karriere als freier Schriftsteller lässt sich Johann Karl Wezel verarmt und isoliert wieder in seiner Geburtsstadt Sondershausen nieder und flüchtet sich in den Wahnsinn: Er ist jetzt „der Gott Wezel“.

Schon als Pennäler war er wegen seiner Arroganz und Egomanie bei den Mitschülern nicht sehr beliebt. Lehrer Gieseke indes, Theologe und Lyriker mit guten Kontakten, fördert seinen Primus, besorgt ihm ein Stipendium fürs Theologiestudium in Leipzig und gleich auch noch eine Unterkunft beim berühmten Schriftsteller Christian Fürchtegott Gellert, der ihm eine solide literarische Ausbildung angedeihen lässt. Wezel liest Lockes „Essay on Human Understanding“, La Mettrie, Holbach, Helvétius und bastelt sich daraus eine synkretistische Philosophie, die zwischen dem Sensualismus der Engländer und dem Materialismus der Franzosen vermittelt.

Nach Gellerts Tod verlässt er Leipzig, ohne Abschluss, und tritt eine Hofmeisterstelle in Bautzen an, die ihm genügend Muße lässt für die eigene Produktion. Sein Roman „Lebensgeschichte Tobias Knauts, des Weisen, sonst der Stammler genannt“ (1773–76) wird ein Erfolg. Ein realistischer Antibildungsroman in „Tristram Shandy“-Manier, also mit vielen Umwegen und Abschweifungen, die er jedoch als besondere Form des Realismus legitimiert. „Mein Plan sollte dem Plane der wirklichen Begebenheiten ähnlich sein: alles ohne Ordnung scheinen, und nichts ohne Endzweck sein.“

Wezel erzählt die Geschichte eines armen, buckligen und stotternden Landpfarrerssohns, der hinaus in die Welt zieht, der sich dabei keineswegs moralisch läutert oder intellektuell reift. Aus dem ungebildeten Dummkopf wird ein religiöser Schwärmer, also ein noch größerer Dummkopf. Ein Affront gegen das aufgeklärte Perfektibilitäts-Dogma. Wezel offenbart sich hier als typischer Spätaufklärer, als empirischer Skeptiker, der sich gegen jede Form von Schwärmerei wendet – und sei es gegen die der Aufklärung selber. Literaturhistorisch von Interesse ist „Tobias Knaut“ aber vor allem wegen seiner derben Milieuschilderungen und scharfen Skizzen der unteren Gesellschaftsschichten, die auch das Ordinäre und Obszöne nicht aussparen. Die Weimarer Feingeister sind gar nicht amüsiert.

Nach einem Aufenthalt in Berlin, wo er sich noch einmal als Hofmeister anstellen lässt, privatisiert Wezel nun vorwiegend in Leipzig. Sein zweiter Roman, „Belphegor, oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne“ (1776), ist eine „Candide“-Adaption. Wie in Voltaires Vorlage schickt Wezel einen jugendlichen Enthusiasten hinaus in die Welt und konfrontiert ihn mit Gewalt, Unterdrückung und namenlosem Leid. Allerdings geht es Wezel dabei nicht so sehr um eine Widerlegung der Leibnitz’schen These von der „besten aller möglichen Welten“, sondern einmal mehr um eine illusionslose, realistische Perspektive auf die Wirklichkeit. Nur wer sich klarmacht, dass Neid und Egoismus „allgemeinste Triebfedern der menschlichen Natur“ und Urheber „alles Guten und Bösen auf unserm Erdballe“ sind, kommt damit auch halbwegs klar.

„Herrman und Ulrike“, ein psychologisch differenzierter, welthaltiger, Wezels gelungenster Roman, führt sein pädagogisches Anti-Schwärmerei-Programm dann an einem positiven Beispiel vor. Heinrich Herrmann, Sohn eines Steuereintreibers, und seine große Liebe Baronesse Ulrike verlieren gelegentlicher Schicksalschläge ungeachtet nie ihren tätigen Optimismus und dürfen nach vielen Irrungen und Wirrungen und einer glänzenden Karriere Herrmanns bei Hof schließlich trotz des Standesunterschieds heiraten.

Mit Erscheinen des Romans 1780 befindet sich Wezel auf der Höhe seines Ruhms. Er schreibt noch einige Bücher, Lustspiele, Kritiken, Polemiken und einen mehrbändigen „Versuch über die Kenntniß des Menschen“, in dem er in guter sensualistisch-materialistischer Tradition die Philosophie auf das Substrat des Körpers zurückführen will. Der dritte Band wird Opfer der sächsischen Zensur, weil er die Orthodoxie mit seinem allzu freigeistigen „System über die Entstehung des Menschen“ erzürnt. Dieser Zensur-Skandal ist womöglich der Auslöser seines schwer erklärlichen Verstummens gegen Ende der 80er Jahre. Seine letzten, immerhin noch dreieinhalb Lebensjahrzehnte verbringt er zurückgezogen und offenbar geistig verwirrt in Sondershausen. Ein Pflegefall. Bis zu seinem Tod am 28. Januar 1819 hat ihn die lesende Öffentlichkeit gründlich vergessen. Es dauerte fast anderthalb Jahrhunderte, bis Arno Schmidt ihn als einen der aufgeklärten „Schreckensmänner“ des 18. Jahrhunderts wiederentdeckt und damit eine Wezel-Renaissance auslöst. In der Folge sorgen die üblichen Jubiläen immer mal für etwas Aufmerksamkeit. Die zum 250. Geburtstag vor über zwanzig Jahren begonnene, immer noch nicht vollständige Werkausgabe beim Heidelberger Mattes-Verlag soll jetzt fortgeführt werden, mit einem „Wezel-Lesebuch“ als Teaser. Und die Andere Bibliothek kündigt eine Neuausgabe von „Herrrman und Ulrike“ an.