die dritte meinung
: Volksentscheide, die nur Ja und Nein kennen, killen die Demokratie, sagt Claus Leggewie

Claus ­Leggewie

war Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen und ist Mitherausgeber der Blätter für deutsche und internationale Politik.

Nein, die Briten spinnen nicht, eher diejenigen, die sie einem absurden Referendum ausgesetzt haben. Die Volksabstimmung über den Brexit war weder direkte Demokratie noch eine Sternstunde parlamentarischer Demokratie an ihrem Entstehungsort Westminster.

Beim Brexit stand alles mögliche zur Abstimmung, vom Trennungsfrust bis zur imperialen Nostalgie, aber kaum je die konkreten Fakten und Fragen, mit denen London und Brüssel jetzt nicht zu Rande kommen. Plebiszite, die nur Ja und Nein (oder Zu-Hause-bleiben) kennen, killen die Demokratie. Was fehlt, ist die Untermauerung demokratischer Entscheidung durch gründliche Information und Erörterung. Dieser deliberative Strang demokratischer Praxis kommt nicht nur in Großbritannien regelmäßig zu kurz, angeblich gibt es dafür kein Geld, keine Zeit, kein Personal.

Zur Überprüfung des Brexits oder zur Erörterung anderer Zukunftsfragen ruft man natürlich nicht Hundertschaften in Stadthallen und lässt bekannte Positionen nochmal aufeinanderprallen. Man eröffnet vielmehr moderierte Dialoge, an denen Berufspolitiker möglichst gar nicht und Experten nur bei Bedarf teilnehmen, sondern 50 bis 100 Bürgerinnen und Bürger, die per Losverfahren (repräsentativ für die Gesamtbevölkerung) ermittelt werden, Argumente austauschen und eine vorgefasste Meinung korrigieren können. Mit dem Ergebnis der Debatte müssen sich Legislative und Exekutive intensiv befassen. Und das geschieht nicht, wenn es schon brennt, sondern wird Bestandteil des politischen Systems, eine Art vierte Gewalt.

Das klappt nie? Diverse Ansätze haben schon gut funktioniert, beispielsweise in Irland zu einem so umkämpften Thema wie der Abtreibungsfrage, und andernorts rund um den Globus, wo es ums Geld ging (Bürgerhaushalte), um Energie und Verkehr oder auch um Verfassungsfragen. Statt nur Krokodilstränen darüber zu vergießen, dass „Demokratien sterben“, sollten jetzt Experimente mit fundierter Bürgerbeteiligung auf allen Entscheidungsebenen unternommen werden, um die Demokratien zu retten.