Britischer Aufruhr wegen weniger Migranten

Anfang des Jahres sprach Großbritanniens Innenminister Sajid Javid von einer „Notsituation“ und brach medienwirksam seinen Winterurlaub ab: Insgesamt 539 Flüchtlinge hatten da in Schlauchbooten und kleinen Schiffen den Ärmelkanal zwischen Frankreich und Großbritannien überquert. Wie viele weitere noch unentdeckt an der Küste von Kent gelandet sein könnten, weiß niemand.

In der rechten britischen Presse war von einer „Invasion Großbritanniens“ die Rede, manche mutmaßten, dass Frankreich Tausende Illegale rund um Calais absichtlich ziehen lasse, um vor dem Brexit die Briten zu ärgern. In den Kommentaren so mancher Zeitung lästerten aufgebrachte Leser*innen über den „Migrantenhaifischfraß“. Mike Eddy, einziger grüner Stadtrat in der Hafenstadt Dover, die der französischen Küste am nächsten liegt, gab sich im Gespräch mit der taz kaum überrascht: So sei es schon gewesen, „als man noch Napoleon oder später Angriffe der Deutschen fürchtete.“

Aber die Kanalaffäre offenbart auch echte Probleme. Großbritannien hat zwar keine offenen Grenzen – es gehört ebenso wie Irland nicht zum Schengenraum –, aber es fehlt dem Inselstaat jede nennenswerte Grenzsicherung. „Besitzt die Navy nur Zehnerschaften von Booten, haben Frankreich und Italien jeweils Hunderte“, sagt Baron West of Spithead, Ex-Admiral der Marine und ehemaliger Sicherheitsberater der letzten Labour-Regierung.

Zur Aufspürung und Rettung der Migranten gab es zunächst in den Gewässern um Dover nur ein Schiff. Inzwischen hat Javid zwei Fregatten aus dem Mittelmeer abgerufen. Lucy Moreton, Generalsekretärin der Grenzpersonalgewerkschaft ISU, imponiert das wenig. „Die Ressourcen der Küstenwache befinden sich schon lange auf äußerst kritischem Niveau“, sagt sie. Seit Jahren gibt es immer wieder Streitigkeiten, wenn lokale Küstenwachen aus Spargründen verkleinert und zusammengelegt werden.

Aus dieser Perspektive geht die Abschottung Großbritanniens nicht weit genug – trotz Brexit. Während Rechtspopulistenführer Nigel Farage die britische Küstenwache auffordert, im Kanal aufgegriffene Migranten nach Frankreich zurückzubringen, statt sie nach England zu transportieren, sagt Innenminister Javid, dass die illegal eingereisten Migranten nicht in Großbritannien bleiben können. Doch laut David Wood, Ex-Immigrationschef des Innenministeriums, leben 64 Prozent der 80.813 abgelehnten Asylsuchenden aus den Jahren 2010 bis 2016 noch immer auf der Insel. Gefundenes Fressen für die Boulevardpresse.

Daniel Zylbersztajn, Dominic Johnson