Geschichten der Löwin

Unter Pseudonym Foto: TAZ

Von Dinah Riese

Die Gießener Ärztin Kristina Hänel wurde im Oktober in einem Berufungsverfahren verurteilt, weil sie gegen das Werbeverbot für Abtreibung verstoßen haben soll. Im kommenden Jahr geht der Prozess weiter – wie die Debatte über Paragraf 219a, die Hänel angestoßen hat. Im Frühjahr wird ihr Buch veröffentlicht, in dem sie beschreibt, wie es ihr seit der Anzeige ergangen ist.

Bereits 1994 erschien „Die Höhle der Löwin – Geschichten einer Abtreibungsärztin“. Vor einem Jahr verriet Hänel, dass sie es unter dem Pseudonym Andrea Vogelsang geschrieben hatte. Es liest sich erstaunlich aktuell. Ein Auszug:

Liebster …

… hast du mich eigentlich gefragt, warum ich diese Arbeit mache?

[…] Womit soll ich anfangen? Wie soll ich erklären, was es heißt, jahrelang als Die Hexe in einer Stadt zu leben, in der (angeblich) niemand mehr an Hexen glaubt? Wie das ist, wenn du morgens an den Briefkasten gehst, und schon wieder ist ‚ne Zeitung drin, in der steht, was du alles gesagt, getan und geglaubt haben sollst? […]

Wie frevelhaft und unmoralisch es sei, so etwas machen zu wollen! So viele Abtreibungen! Und sie auch noch human durchführen zu wollen! Das ginge doch nicht. Wo kämen wir denn da hin, da gehen die Frauen am Ende mal eben zwischen Einkaufsbummel und Kaffeeklatsch … Und schon reden sie im gleichen Atemzug über Holocaust und Unmenschlichkeit, von Mörderinnen und Kinderhasserinnen usw. […]

Am meisten haben mich die absurdesten Vorwürfe verletzt: Die Vorwürfe, die von AbtreibungsgegnerInnen immer wieder in der Richtung erhoben wurden, wir seien faschistisch oder kinder- und menschenverachtend. Oder gar frauenfeindlich. Es ging bis dahin, daß wir mit unserer Aufklärung für die sexuelle Gewalt an Kindern verantwortlich gemacht wurden; und das mir! Verdammt! Wie weh mir das tat, dürften sie eigentlich gar nicht wissen, so skrupellos wie sie sind. Sie rufen bei einer Frau an, deren Adresse sie über einen Leserinnenbrief herausgekriegt haben. Ihr kleines Kind ist am Telefon, und sie schreien: „Mörderin!“ in den Hörer. Und diese Postkarten und diese Briefe … Was für eine Scheiße, diese Schweine, was für ein Haufen Dreck! Sollen sie doch für mich beten, das ist mir egal, aber sie sollen uns in Ruhe leben lassen, uns und unsere Kinder. […]

Reicht es Dir einstweilen für heute, soll ich lieber mal aufhören? Und ich soll aufpassen, daß mich nicht doch noch jemand anzeigt, wenn ich hier so freimütig plaudere? Immerhin gibt es ja dieses Strafgesetz, und das droht den ÄrztInnen unter bestimmten Voraussetzungen Gefängnis an – nicht mehr Zuchthaus wie ganz früher oder Todesstrafe wie in den Jahren dazwischen, über die wir ja nicht so viel reden sollen in diesem Land. Ich glaube, ich bin einigermaßen imstande, mit dieser Angst zu leben. Zuweilen jedenfalls. Die Jahre, in denen unsere GegnerInnen in Veranstaltungen jedes Wort protokolliert, Frauen gegen uns aufgehetzt haben, uns immer wieder mit Strafanzeigen gedroht und sie auch gestellt haben, sind nicht spurlos an mir vorübergegangen. Nein, ich bestimme selbst, worüber ich schreibe. […]

Es gibt immer mehrere Arten, Geschichten zu sehen und zu erzählen, und meine Art ist nur eine mögliche, ich weiß. Und es gibt etwas an all diesen Geschichten, das mich, obwohl ich meine, zu wissen, wie das Leben ist, wahnsinnig daran werden läßt, mich traurig und wütend macht, mich nicht losläßt. Vor allem aber läßt es mich immer weiterkämpfen, und ich weiß, daß ich das gut kann, und deswegen mache ich diese Arbeit. Hattest Du mich eigentlich danach gefragt?

Das Buch „Die Höhle der Löwin“ wurde im März 2018im Ulrike Helmer Verlag neu aufgelegt.