Übungen inliterarischerLockerung

Letzter Verleger alter Schule oder eher erster Verleger einer neuen?Helge Malchow hört als Verlagschef bei Kiepenheuer & Witsch auf. Das ist ein Einschnitt für die gesamte Literaturszene

Helge Malchow mit seinen Autoren Christian Kracht und Bret Easton Ellis (v. l.) Foto: Kiepenheuer & Witsch

Von Dirk Knipphals

Am 6. Juni 1983, vor langer Zeit also, erschien in der taz eine Besprechung des Romans „Der große Hirnriss“. Dieses Buch, keine Sorge, muss man heute nicht mehr unbedingt kennen (es sei denn, man ist Experte für neuere Popliteratur, dann könnte man hier eine ihrer Gründungsakten identifizieren). Aber wer es kennt, wird sich erinnern.

Peter Glaser und Niklas Stiller haben das Buch als Duo geschrieben, Heiza heißt einer der beiden Protagonisten. In der harten Wirklichkeitsbeschreibung sollte Anschluss gefunden werden an den Punk und an New Wave, mit Seitenblicken auf den Geist des New Journalism.

Die Besprechung liest den Roman nun als literarisches Manifest einer neuen deutschen Autorengeneration. Heiza, so heißt es, „steht in der Wirklichkeit, so wie sie ist“. Und: Es gebe „einen neuen Boden unter den Füßen, der nicht schlecht trägt: die Entdeckung der Einzelnheit, die Frische der Wahrnehmung“.

Wenn man diesen Artikel heute liest, meint man den Druck im Kessel spüren zu können, der damals im Literaturbetrieb der alten Bundesrepublik herrschte. Die Deutschlehrerwelt rund um die Gruppe 47 ist noch intakt. Die Suhrkam-Kultur steht noch breitbeinig im literarischen Feld. Aber vom Subkulturellen her drangen Energien auch in Richtung der renommierten Verlagsprogramme. Die Neue Frankfurter Schule versuchte es mit Hochkomik. Und auf einer anderen Schiene vermischten sich Popschreiber und Romanschreiber. Es war eine interessante Aufbruchszeit damals.

Der Autor der Besprechung heißt Helge Malchow. Der Artikel ist zugleich ein Arbeitsauftrag an sich selbst: dem neuen Boden in der Literatur eine Bahn brechen! Und da macht er sich ran. Noch im selben Jahr, 1983, wird er Lektor und bleibt es knapp zehn Jahre. Weitere zehn Jahre ist er Cheflektor. Seit 2002 ist er Verleger. Alles im selben Haus, bei Kiepenheuer & Witsch, einem der wichtigsten deutschen Verlage und in vielem trendsetzend.

Zum Jahresende hört Helge Malchow, inzwischen 68 Jahre alt, nun auf. Nicht ganz. Er wird weiter Bücher betreuen (aktuell etwa das nächste Buch von Deniz Yücel). Er wird den Titel Editor at large tragen (den er selbst nicht ironiefrei über die Lippen bekommt). Aber verlegen wird dann jemand anderes, seine Nachfolgerin Kerstin Gleba.

Dieser Übergang ist seit Jahren geplant und vorbereitet worden; anders als bei anderen Verlegerwechseln – Michael Krüger mussten sie bei Hanser fast aus dem Verlegerzimmer tragen, Barbara Laugwitz wurde bei Rowohlt gefeuert –, gibt es kein böses Wort. Ein Einschnitt ist die Personalie aber natürlich dennoch, und zwar nicht nur für das Kölner Verlagshaus allein.

Es gibt Stimmen, die in Helge Malchow nun den allerletzten Verleger alter Schule von Bord gehen sehen. Schließlich ist er der letzte Chef eines größeren Verlags, dessen Laufbahn noch in die Zeiten solch emblematischer Verlegerfiguren wie Siegfried Unseld bei Suhrkamp zurückreicht: charismatisch und in ihrer ganzen Person fest mit ihrem hochkulturellen Auftrag verwachsen.

Aber genau an solchen patriarchalischen Figuren hat er sich auch immer gerieben. Und vielleicht ist es sowieso auch ganz gut, einmal aufzuschreiben, was mit seiner Karriere angefangen hat: Viel besser nämlich denn als letzten Vertreter eines alten kann man Helge Malchow als ersten Vertreter eines neuen Verlegertyps beschreiben, der inzwischen, ohne dass das groß auffällt, selbst schulbildend geworden ist.

„Als ich angefangen habe“, erzählt Helge Malchow, wenn man ihn fragt, „gab es noch eine fast metaphysische Trennung zwischen E und U. Da habe ich dann versucht, etwas daran zu rütteln.“ Was Malchow hier beschreibt, ist nichts Geringeres als ein ganzes Generationsprojekt. „Cross the border – close the gap“, überwinde den Abgrund zwischen hoher und niederer Kultur – nach dem gleichnamigen Essay von Leslie Fiedler –, das wird sein Ansatzpunkt. Inzwischen ist die Vermischung von Ernsthaftigkeit und Unterhaltung so selbstverständlich, dass man erklären muss, was mit deren Trennung lange Zeit verbunden war: Geniedenken und eine strikt hierarchische Sicht auf die Gesellschaft nämlich. Ein jeder sollte wissen, wo sein Platz ist: Der für den Künstler war oben, mindestens beim Geistesadel; der für die Unterhalter unten, in der „Masse“, beim „Volk“. Die Formel „Close the gap“ hatte also kämpferisch-egalitäre Implikationen.

„Meine Idee war“, so Malchow, „Themen zu finden, die bis dahin in der deutschen Literatur nicht satisfaktionsfähig waren. Und Schreibformen, die eher von den anderen Kunstformen geprägt wurden.“ Musik, Kunst, Mode, das alles konnte einem ja damals tatsächlich weltoffener, experimenteller erscheinen als die Literatur. Und als inhaltliches Beispiel fällt Helge Malchow „Fever Pitch“ von Nick Hornby ein, ein Buch, das die populäre Kultur eines Landes, hier den Fußball, literarisch erfassen kann.

Cross the border, close the gap: Das ist nichts Geringeres als ein ganzes Generationsprojekt

Köln erwies sich als guter Standort für solche „Lockerungsübungen“ (Malchow). Die Zeitschrift Spex begann sich hier zu etablieren. Aus ihrem Umfeld und etwas später aus der ihr teils im Buddytum, teils in herzlicher Ablehnung verbundenen Zeitschrift Tempo rekrutierte Malchow wichtige Autoren. Dass die letzte Spex genau zu dem Zeitpunkt erscheint, an dem er als Verleger aufhört, ist für ihn eine große Ironie der Zeitgeschichte.

Außerdem gab es für Grenzgängereien im Verlag Kiepenheuer & Witsch Anknüpfungspunkte. Hier verlegte man Ga­briel García Márquez und Günter Wallraff nebeneinander, Literatur und Sachbuch also. Und Dieter Wellershoff, einer der Vorgänger von Helge Malchow als Lektor, hatte schon in den Siebzigern versucht, eine „Kölner Schule des neuen Realismus“ zu prägen und dabei etwa den französischen Nouveau Roman und die frühe Popliteratur eines Rolf Dieter Brinkmann aufeinander zu beziehen.

Gut, aus solchen Ansätzen entstand dann unter Helge Malchow die neue Popliteratur: Christian Kracht, Maxim Biller, Benjamin von Stuckrad-Barre, international Bret Easton Ellis und andere. Wobei Malchow schon wichtig ist, das alles als Erweiterung des literarischen Feldes zu sehen, nicht als deren Übernahme. Mit Kiepenheuer & Witsch eng verbundene, erzählerischer vorgehende Nicht-Pop-AutorInnen wie Uwe Timm und Katja Lange-Müller sind ihm genauso wichtig.

Wie weit Malchow die Kluft zwischen E und U zwischenzeitlich geschlossen hat, kann man sich gut an zwei Buchtiteln klarmachen. 2004 erschien „Der Schwarm“ von Frank Schätzing, programmatisch im Hardcover, also verbunden damit, dass der Verlag sein kulturelles Kapital für dieses Buch einsetzt, das in anderen Häusern wohl nur im Thrillersegment platziert worden wäre. Zu diesem Zeitpunkt saß aber auch ­Ulrich Blumenbach bereits an seiner Übersetzung von David Foster Wallace’ „Unendlichem Spaß“, dieser Revitalisierung des großen amerikanischen Romans, die dann 2009 erschien. Beide Bücher wurden zu großen Erfolgen, auch verkaufstechnisch. Diese verlegerische Leistung kann man durchaus zu Helge Malchows Vermächtnis als Verlagschef zählen. Dass in einem solchen Haus dann ein Erzählprojekt wie „Vernon ­Subutex“ von Virginie Despentes erscheint, leuchtet einem sofort ein.

Wie ist also dieser neue Verlegertypus? Pragmatisch sind sie ja längst alle. Ein Verleger der Malchow-Schule achtet dabei aber stets auch auf die Verlags­iden­tität, wie patchworkartig diese auch immer aussieht. Gute Gastgeberqualitäten gehören weiterhin dazu, aber ohne He-Man-Allüren. Gute Lautsprecherfähigkeiten braucht es wohl auch, aber ohne die Anmaßung, Bücher als die wichtigste Sache der Welt zu verkaufen. Vor allem hat dieser Typus den unbedingten Respekt vor der Arbeit der AutorInnen und die langen Beziehungen zwischen ihnen und dem Verlag behalten. Und längst kann er, das sei auch gesagt, sowohl männlich als auch weiblich besetzt sein.