Jargon des Storytelling

Aus aktuellem Anlass nach gut sechzig Jahren wieder gelesen: Enzensbergers Kritik am „Spiegel“

Die legendäre Sendung „Radio-Essay“ strahlte am 8. Februar 1957 im Süddeutschen Rundfunk Hans Magnus Enzensbergers Essay „Die Sprache des Spiegel“ aus. Am 6. März druckte der Spiegel die Abrechnung nach, mit der sich der 28-Jährige als Kulturkritiker ins Gespräch brachte.

Liest man Enzensbergers Kritik heute noch einmal, fällt zunächst auf, auf welch schmaler Faktenbasis er das Blatt kritisiert. Für den zentralen Vorwurf, der Spiegel verletze den Anspruch eines „Nachrichtenmagazins“, weil er Nachrichten durchgehend personalisierend kostümiere, bringt Enzensberger genau ein Beispiel: Den Volksaufstand in Ungarn im Oktober/November 1956 verpackte der Spiegel in eine Titelgeschichte über den ungarischen Ministerpräsidenten Imre Nagy. Und wenn Enzensberger diagnostisch von der leichtfertigen Personalisierung mit einem Sprung auf „totalitäre Schlagworte von Führerprinzip und Persönlichkeitskult“ kurzschließt, verhebt er sich gehörig am vergeblichen Unterfangen, Hitler und Stalin auf einmal zu stemmen.

Dass im Textgenre Story beziehungsweise Titelgeschichte komplexe politisch-soziale Prozesse und Zusammenhänge mittels Anekdoten, Spekulationen, Klatschgeschichten, Legen­den und Histörchen zu Geschichtchen zerkleinert und in mundgerechten Häppchen serviert werden, trifft zu. Aber die argumentative Schärfe Enzensbergers verdampft zum halb garen Aperçu mangels Belegen, denn Storytelling ist mehr als eine Masche oder Mode, eher so etwas wie die Mutter des aktuellen Spiegel-„Skandals“.

Der Rat, Artikelanfänge und ganze Texte so zu drechseln, dass sie „in die Geschichte hineinziehen“, ist zur flächendeckenden Seuche geworden. Krawatten und Pullover, Frisur und Make-up, Hausnummer und Automarke haben Argumente, Informationen, Interessenlagen und Konfliktlinien ins zweite Glied verdrängt. Die Girlande wurde zur Botschaft geadelt.

Netz aus Slang, Sound, Gags

Für Enzensbergers Einwand, „der allgegenwärtige Jargon“ des Magazins überwuchere alles, worüber es berichte, benennt der Autor die sprachlichen Mittel zwar ganz allgemein: Modewörter, saisonal wechselnder Slang oder Sound, rhetorische Accessoires und syntaktische Gags. Aber wie aus Rudolf Augsteins pragmatischer Forderung nach einem „knappen, farbigen Deutsch“ im Magazin ein Jargon und eine sprachliche Masche wurde, belegt er nur mit einem einzigen Beispiel, dem Bericht über die Schlussfeier der XVI. Olympischen Sommerspiele in Melbourne. Hier wurde Sport in Spiegel-typischer Diktion als „Muskelkrieg“ drapiert – aus dem einzigen Grund, weil Soldaten der englischen Königin bei der Schlussfeier ein paar Salutschüsse abgaben. Das Beispiel steht für einen „allgegenwärtigen Jargon“, der „die“ Nachrichten mit einem Netz überziehe. Die sprachlich platten Mätzchen dieses „Jargons“ werden heute in Journalistenschulen gelehrt und gelernt, ja normativ kodifiziert.

Enzensberger analysierte textnah nur zwei Titelgeschichten über Jean-Paul Sartre. In ihnen wird aus dem Vorreiter der „sozialen Demokratie“ (1949) der „Reisegefährte“ in der „Kutsche der Kommunistischen Partei Frankreichs“ (1956). „Reisegefährte“ ist eine trivial-wörtliche Übersetzung von „compagnon de route“, was im politischen Kontext allerdings mit „Sympathisant/Anhänger/Genosse“ übersetzt werden müsste. Und das Wort Kutsche für die damals größte Partei Frankreichs ist absurd. Enzensberger witterte hinter dem Wort vom „erlauchten Reisegefährten“ eine „Diffamierung der Intellektuellen“, die „auf faschistische Sprachregelungen“ zurückgehe.

So brillant Enzensbergers Medienkritik in sprachlicher Hinsicht bis heute dasteht, so oberflächlich erscheint sie in historischer Perspektive und so penetrant vereinfachend polterte sie politisch mit der schlichten These, „die“ Herrschenden ließen „das“ Bestehende durch „die“ Medien absegnen. Enzensbergers Biograf Jörg Lau sieht darin eine Variante der Wiederbelebung des „alten Schemas vom Priesterbetrug“ – also der vulgarisierten Aufklärung. Dieses Niveau hat der Storytellingjournalismus längst unterschritten: Er kennt nur noch vermeintlich reflexions-, argumentations- und interessenfreie Augenzeugenschaft und räkelt sich in der gefühlig-verlogenen Unmittelbarkeit des historischen Präsens des Boulevardjournalismus. Rudolf Walther