umbruch in armenien
: Kein Grund zum Jubeln

Im Dezember wurde Nikol Paschinjan nach der Samtenen Revolution als Regierungschef bestätigt. Jetzt kopiert er die Methoden seines Vorgängers

:

Tigran Petrosyan,

Jahrgang 1984, ist armenischer Journalist, seit 2012 schreibt er auch für die taz und Zeit Online. Er ist Co-Reiseleiter der taz-Reise in die Zivilgesellschaft Aserbaidschan/Georgien/Armenien. Zurzeit promoviert er an der Freien Universität Berlin zum Thema Medien und Migration.

Nikol Paschinjan hat’s geschafft. Ganz Armenien feiert mit seinem Pre­mier­mi­nis­ter die Ergebnisse der Parlamentswahlen. Am 9. Dezember erreichten der Revolutionär und sein Bündnis Mein Schritt mit über 70 Prozent eine absolute Mehrheit. Seitdem ist die Südkaukasusrepublik auf eine politische Macht fokussiert, besser gesagt auf einen einzigen Mann: ihn, den neuen Helden, den Erretter und Befreier, wie ihn die Menschen mittlerweile nennen.

Doch zum Jubeln gibt es leider keinen Anlass. Denn mit diesen Wahlen wurde vorerst der Parlamentarismus begraben, der in Armenien bislang noch nicht mal begonnen hatte zu funktionieren. Die Wahlen, die nicht einer Partei, sondern ausschließlich einer Person galten, ermöglichen Paschinjan, allein zu regieren.

Sein haushoher Triumph ist die Folge der sogenannten Samtenen Revolution. In diesem Frühjahr brachte der damalige Oppositionspolitiker Zehntausende gegen das Regime von Sersch ­Sargsjan auf die Straße. Dank einer Verfassungsänderung vom Dezember 2015, die das Volk in einem gefälschten Referendum abgesegnet haben soll, wollte der seit 2008 regierende Ex-Präsident Sersch Sargsjan als Regierungschef weiter an der Macht bleiben. So ließ sich im April ­Sargsjan durch die absolute Mehrheit seiner Partei im Parlament als Regierungschef wählen. Er konnte aber nicht länger als eine Woche regieren. Nach den Massenprotesten im ganzen Land trat er zurück.

Pachinjan beendete die republikanische Herrschaft, die mehr als 20 Jahre das Land ausgeraubt und ausgeplündert hatte. Ja mehr noch: Die Republikaner wurden so gnadenlos abgestraft, dass sie nicht einmal mehr die Fünfprozenthürde überwanden, um in das Parlament einzuziehen. Die Wahlen waren – nach den Massenprotesten – fair und frei. Das ist in dieser Region alles andere als selbstverständlich. Seit der Unabhängigkeit Armeniens 1991 waren alle Wahlen und Abstimmungen geprägt von Bestechung, Erpressung und massiven Fälschungen. Etwas anderes kannten die Menschen bis dahin nicht. Nicht zuletzt auch aus diesem Grund sind die Wahlen 2018 für die Demokratisierung des Landes von Bedeutung.

In einem wie jetzt zusammengesetzten Parlament wird es keine politischen Debatten und keine politischen Auseinandersetzungen geben. Genau die aber bräuchte es, damit sich eine pluralistische und demokratische Kultur entwickeln kann.

Von einer blühenden und leuchtenden parlamentarischen Opposition kann keine Rede sein. Die zweitgrößte Partei Blühendes Armenien mit einem Anteil von 8,3 Prozent der Stimmen soll jetzt zusammen mit der Partei Leuchtendes Armenien (6,4 Prozent) diese Rolle übernehmen. Gagik Zarukjan, Spitzenoligarch, Multimillionär und Parteichef von Blühendes Armenien, gefällt sich in der Rolle des Kämpfers gegen Armut und Arbeitslosigkeit. Er will dem bitterarmen Land zu Wohlstand verhelfen. Zarukjan bezeichnet sich selbst als erfolgreichen Unternehmer in der Politik und vergleicht sich mit Donald Trump oder Silvio Berlusconi. Davon, dass Zarukjan früher Koalitionspartner von Ex-Präsident Sersch Sargsjan war, will er heute nichts mehr wissen.

Genauso wenig wie Paschinjan von seiner eigenen Position, Oligarchen hätten weder in der Regierung noch im Parlament etwas zu suchen. Auch die Oppositionsrolle der Partei Leuchtendes Armenien ist fragwürdig. Die Partei hat die Samtene Revolution von Anfang an unterstützt. Sowohl vor als auch nach dem Aufstand arbeitete Leuchtendes Armenien eng mit Paschinjan zusammen. Eine quasi nicht existente parlamentarische Opposition, die als Kontrollinstanz ausfällt, geht einher mit einer eindrucksvollen Machtfülle Paschinjans. Diese verdankt sich den Verfassungsänderungen seines Vorgängers Sargsjan, die Vollmachten des Präsidenten auf den Regierungschef übertrugen. So sind Polizei und Geheimdienst direkt dem Regierungschef unterstellt.

Wie Paschinjan von seinen erweiterten Kompetenzen Gebrauch macht, zeigt beispielsweise sein Vorgehen gegen den zweiten Präsidenten Armeniens, Robert Kotscharjan. Dieser befindet sich derzeit zum zweiten Mal in Untersuchungshaft. Ihm wird vorgeworfen, für die Niederschlagung einer Demonstration 2008 verantwortlich zu sein. Dabei kamen durch Schüsse von Sicherheitskräften zehn Menschen ums Leben.

Kotscharjan ist nicht der Einzige, dem ein Gerichtsverfahren und eine langjährige Haftstrafe drohen. Einige Generäle, die mit den Clanstrukturen des oligarchischen System der Republikanischen Partei verbunden waren, wurden festgenommen. Auch einige Familienangehörige von Sersch Sargsjan werden strafrechtlich verfolgt. Manche Beobachter sprechen bereits von einer regelrechten Abrechnung mit einigen Vertretern des alten Systems.

Wer es wagt, dem neuen Premier Widerworte zu geben, wird sofort als Verräter abgestempelt

Neben einem Großteil der Bevölkerung begrüßen auch Akteure der Zivilgesellschaft dieses Vorgehen. Viele von ihnen, so sie nicht auf Paschinjans Liste kandidiert haben, sind mit ihm solidarisch. Aber auch viele vormals kritische Journalisten und Redakteure haben ihre Presseausweise gegen ein Abgeordnetenmandat getauscht.

Wer es dennoch wagt, Paschinjan Widerworte zu geben, wird sofort als Verräter abgestempelt und auf der Seite des alten Regimes verortet. So berichten es zumindest Medienvertreter, denen der Durchmarsch von Paschinjan nicht geheuer ist. Hängt also die Zukunft des Landes wieder einmal von einem Mann ab, der – so glauben die meisten Armenier – zumindest heere Absichten hat und die Korruption wirksam bekämpfen will?

Die Erwartungen der Menschen sind hoch, vielleicht überzogen, doch aus ihrer Sicht zu Recht. Schließlich haben sie einen Dauerherrscher zu Fall gebracht. Jetzt muss Paschinjan liefern. Tut er das nicht, muss er sich auf neuen Gegenwind einstellen. Und das sehr bald.