schlagloch
: Abschied von Arkadien

Früher ging es um Sehnsucht, jetzt um Grenzen. Am Streit über die Migration kann mehr als das deutsch-italienische Verhältnis zerbrechen

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Nora Bossong,

Jahrgang 1982, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Zu ihren wichtigsten Romanen zählen „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ (2012) und „36,9°“ (2015). Kürzlich erschien ihr Gedichtband „Kreuzzug mit Hund“ bei Suhrkamp

Auch ich in Arkadien!, schrieb Goethe einst verzückt und fasste damit das Verhältnis der Deutschen zu Italien prägnant zusammen. Italien war der Sehnsuchtsort par exellence, in Deutschland war, in Italien lebte man. Heute klebt ein handgeschriebener Zettel darunter: Fuori funzione, außer Funktion.

Wer als Tourist in die Ewige Stadt kommt, mag das noch als liebevolles Klischee aufgreifen. Wer wie ich einmal tatsächlich vorgehabt hat, in Rom zu leben, kann mit jedem Besuch eigentlich nur weiter deprimieren. Seit zehn Jahren höre ich von jungen Akademikern das immer Gleiche: keine Perspektive, kein Geld, der Unibetrieb verfilzt, die meisten Zeitungen zahlen nicht oder nicht gut. Zwar wechseln die Regierungen und heute ist das Schlagwort der Stunde Sovranismo, was man als Nationalismus im neuen Gewande verstehen mag. Die Schönheit Roms jedenfalls, vor der ich einmal in die Knie gegangen bin, macht mich heute angesichts der Perspektivlosigkeit vor allem wütend. Der Feudalismus feiert sich im festgefahrenen Marmorgeld und mit Perlenketten im Café Greco, als wäre nie etwas geschehen.

Die junge Mittelstandsgeneration bleibt derweil von den Eltern und Großeltern abhängig, wobei hier jung alles unter 50 meint. Glücklich dabei, wer abhängig von der Familie sein kann. Die römischen gilet gialli (Gelbwesten)können das nicht; jene, die in den Neubauten von Ponte Mammolo wohnen und mittlerweile wie ihre französischen Leidensgenossen auf die Straße gehen. Gleichermaßen beachtet werden sie allerdings nicht, lieber schreibt man noch mal über den populistischen Innenminister Matteo Salvini, der sich stets so zu inszenieren versteht, dass die Presse, gerade auch die deutsche, darauf anspringt, gern mit ablehnender Arroganz, frei nach dem Motto: Jemand wie Salvini kann doch auch wirklich nur in Italien zum Politstar werden.

Vorbei die Zeiten, in denen sich zumindest die bundesdeutsche Linke mit vielleicht verklärender Begeisterung Italien zuwandte, den Texten Gramscis und Filmen Pasolinis, der Idee des Eurokommunismus und der Toskana, in der sie als Aussteiger verfallene Bauernhöfe ausbaute, um ihr dolce vita jenseits der bundesdeutschen Tristesse zu finden. Natürlich, es waren auch der Wein und das Wetter, die diese Utopie so verführerisch machten – vom verregneten Deutschland aus gesehen, in dem die Schuldenlast der Vergangenheit schwer wog. Die Fantasie eines leichtfüßigeren Lebens, an das man sich vom Norden aus nur steif und zögernd heranwagte, erschien da umso mehr als Befreiung.

Versteht man von Deutschland aus italienische Politik aus Prinzip nicht und wirft ihr lieber mit leichter Überheblichkeit wahlweise Undiszipliniertheit oder Nationalismus vor, so wirkt umgekehrt in Italien die deutsche Politik allzu leicht wie eine herzlose und übermächtige Garde von Austeritätswächtern, in der man von Migration gut reden hat, kommen über die Nordsee schließlich nur ein paar Fähren aus Dänemark an. Als Deutschland im Sommer 2015 seine Gastfreundschaft fand, hatte man Italien bereits über Jahre mit einer Migration alleingelassen, die nicht, wie sich das Wirtschaftsliberale erträumen mögen, mit Fachkräften das Wachstum in atemberaubende Höhen steigert. Nicht nur Deutschland schaute weg, die ganze EU tat es – genauer gesagt hatte sie sich mit Paragrafen dagegen abgesichert.

Als die Vertragspartner in den 1990er Jahren das erste Dublin-Abkommen unterzeichneten, mit dem die Verantwortung für Asylverfahren bereits vornehmlich jenen Ländern aufgebürdet wurde, in denen die Asylsuchenden zuerst europäischen Boden betraten, müssen sie sich die Migration der nächsten Jahrzehnte wie ein Mittelklasseproblem vorgestellt haben, das sich als sanfte Bewegung über die Flughäfen Europas verteilen würde. Naheliegender scheint mir aber, dass jene Staaten, die nicht über südliche EU-Außengrenzen verfügten, die Verantwortung dafür nicht haben, ja nicht einmal sehen wollten. So kann Gemeinschaft nicht funktionieren.

Nicht mehr Arkadien, sondern Grenzen sind das Sehnsuchtswort der Gegenwart. Wollen die einen sie ganz auflösen, wünschen sich die anderen hohe Zäune, Mauern und geschlossene Häfen, um ihre Wirkmacht zu demonstrieren. Die Frage nach geregelter Migration und nach der Verantwortung für jene, die neu nach Europa kommen, ist einer der großen Zankäpfel, unter dem nicht nur das deutsch-italienische Verhältnis leidet, sondern an dem möglicherweise die EU, so wie sie derzeit besteht, zerbrechen könnte. Dabei kann Sovranismo kaum der Ausweg sein: Fragen der Migration lassen sich langfristig nur multilateral lösen.

Die Schönheit Roms, vor der ich mal in die Knie gegangen bin, macht mich heute angesichts der Perspektivlosigkeit wütend

Dafür allerdings braucht es gute und faire Verträge und eine nüchterne, differenzierte Debatte, auch von links. Will man das Thema nicht den Rechtspopulisten überlassen, muss man ­unterscheiden zwischen dem Problem des Rassismus, der sich gern auch an Orten zeigt, an denen man Migranten hauptsächlich aus dem Fernsehen kennt, und den Sorgen von Gemeinden, die ­tatsächlich überfordert sind. Vermischt man beides in aufhetzenden Parolen oder in Schwarz-Weiß-Moralismus, so wird man den Fragen nicht gerecht, sondern lädt das Thema nur weiter ­emotional so sehr auf, dass es alles andere überdeckt.

Dabei könnte etwa die Emigration Italien härter treffen als die Immigration. Was wird aus dem Land, wenn gerade die jungen, gut ausgebildeten Leute wegziehen, in die Schweiz, nach Frankreich und nicht zuletzt auch nach Deutschland? Berlin ist nicht Arkadien, aber für viele junge Italiener scheint es wenn nicht ein Sehnsuchtsort, dann doch einer mit Perspektive zu sein. Man redet nicht mehr so viel von Sehnsucht, man will erst einmal einen Job und eine bezahlbare Wohnung. Das Träumen ist nicht vorbei, aber es setzt bekanntlich erst dann ein, wenn man nicht mehr schlaflos liegt.