Donbass-Krise:Eskalation nicht ausgeschlossen

43 Zivilisten sind seit Jahresbeginn im Osten der Ukraine durch die Kampfhandlungen ums Leben gekommen. Dies erklärte eine Sprecherin der OSZE-Beobachtermission gegenüber der taz in Kiew. Im Vorjahr waren von der OSZE noch 478 zivile Todesopfer in diesem unerklärten Krieg gezählt worden. Damit scheint der OSZE-Sonderbeauftragte Martin Sajdik recht zu behalten: Er sprach Anfang September dieses Jahres vom ruhigsten Sommer seit Beginn des Konflikts im Donbass.

Allerdings zählt die OSZE konservativ. Die Konfliktparteien präsentieren andere Zahlen. So berichtete die Menschenrechtsbeauftragte der „Volksrepublik Donezk“, Darja Morosowa, dass 149 Zivilisten der „Volksrepu­blik“ in diesem Jahr beim Beschuss durch ukrai­nische Streitkräfte ums Leben gekommen seien. Insgesamt seien seit Beginn des Konflikts vor vier Jahren in der „Volks­re­pu­blik“ 4.716 Menschen ums Leben gekommen, so der Pressedienst von Morosowa. Die Ukrai­ne habe seit Beginn der Kampfhandlungen 2.896 Soldaten verloren, sagte Präsident Petro Poroschenko Mitte Oktober bei einem Besuch in der westukrainischen Stadt Lwiw.

Die zweifellos sinkende Zahl der Opfer darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die labile Situation entlang der abgespaltenen Regionen im Osten der Ukraine jederzeit wieder eskalieren kann. Seit den Vereinbarungen von Minsk im Jahr 2014 ist eine Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Donbass stationiert, die den Waffenstillstand kontrollieren und entsprechende Verletzungen protokollieren soll. Deren fast täglich veröffentlichte Berichte zählen die Schusswechsel und Zwischenfälle beider Seiten auf.

Allein am Dienstag dieser Woche berichtete die Mission von 120 Explosionen, die man im Gebiet Donezk am Vortag registriert habe, von Autofahrern, die in ihrem Wagen von einem Geschoss verletzt wurden, und von Separatisten, die zum wiederholten Male OSZE-Beobachtern den Zugang zu verschiedenen Orten verweigert hätten.

Der Pressedienst der ukrainischen Streitkräfte beschuldigt die „russischen Besatzungstruppen“, auch in dieser Woche gezielt mit verbotenen Waffen der Kaliber 85 und 120 Millimeter geschossen und ebenfalls verbotene Raketenwerfer eingesetzt und somit den Waffenstillstand verletzt zu haben. Allein am Montag seien „drei Kämpfer der russischen Besatzungsstreitkräfte vernichtet, sechs weitere verletzt worden“.

Dem gegenüber erklärte Ruslan Jakubow, ein Sprecher der „Volksrepublik Donezk“, die ukrainische Seite habe an einem einzigen Tag den Waffenstillstand 18-mal verletzt. Ein anderer Sprecher der „Volksrepublik Donezk“ namens Daniil Bessonow behauptete, die Ukrai­ne plane einen Angriff auf die Chemiefabrik Styrol in der 250.000-Einwohner-Stadt Gorlowka. Woher er diese Information bezogen hat, ließ Bessonow offen. So mischt sich Propaganda in die bitteren Statistiken über das alltägliche Sterben an der Demarkationslinie zwischen der Ukraine und den abgespaltenen Regionen im Osten des Landes. Bernhard Clasen