Viele Zahlen und viele Aber

Auf der Frage, wie arm die Bewohner dieser Stadt sind, gibt es nicht nur eine Antwort. Denn Daten zur Armut der Berliner selbst gibt es jede Menge – und Deutungen. „Armut ist nicht nur Einkommensarmut“, sagt Armutsforscherin Susanne Gerull

Illustration: Michael Szyszka

Von Manuela Heim

Die Antwort auf die Frage, wie arm die BerlinerInnen sind? „Sehr schwierig“, sagt Susanne Gerull, Professorin für Soziale Arbeit an der Alice-Salomon-Hochschule und eine der wenigen, die sich in Deutschland überhaupt mit dem Thema Armut beschäftigen. Wir wissen vielleicht, wie arm das Land Berlin ist. Gar nicht mehr so sehr, sagt der Finanzsenator Matthias Kollatz im Interview (Seite 44). Aber wir wissen beileibe nicht, wie arm die BerlinerInnen wirklich sind und wie sich das in den letzten 15 Jahren entwickelt hat, die seit Wowereits „Arm, aber sexy“-Ausspruch (Seite 41) vergangen sind. Zu allen verfügbaren Daten – und das sind eine Menge – gibt es fast ebenso viele „Aber“.

Doch schauen wir uns erst einmal ein paar dieser Kennzahlen an. Angefangen mit der Arbeitslosenquote: 2003 lag sie bei 20,6 Prozent. Aktuell sind es 7 Prozent. Das ist natürlich mehr als erfreulich. Bei allen Schwächen der Arbeitsmarktstatistik – so werden etwa Langzeitarbeitslose in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und generell ab 58 Jahren herausgerechnet – müsste sich diese Verringerung ja auch in geringerer Armut auswirken. Oder etwa nicht?

Die relative Einkommensarmut ist Hauptindikator für Armut. In Berlin gilt als armutsgefährdet, wer von weniger als 967 Euro im Monat leben muss. 2017 waren das 17,4 Prozent, also 646.000 BerlinerInnen. Zum Vergleich: 2003 waren 18,2 Prozent, nämlich 606.000 Menschen, von Armut bedroht. Nach dieser Rechnung gibt es nicht weniger, sondern sogar deutlich mehr BerlinerInnen mit Armutsrisiko. Die Bevölkerung ist schließlich gewachsen.

Bestimmte Gruppen sind nach wie vor in besonderem Maße gefährdet. Das betrifft zum Beispiel fast ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen und jeden dritten jungen Erwachsenen zwischen 18 und 25. In Bezirken wie Mitte, Neukölln oder Spandau sind es noch deutlich mehr. Eins von zehn Kindern oder Jugendlichen ist in Berlin laut Statistik nicht nur von Armut bedroht, sondern lebt in Armut. Das sind über 60.000 Kinder und Jugendliche.

Außerdem überdurchschnittlich armutsgefährdet: Familien mit drei oder mehr Kindern im Haushalt (34 Prozent), Alleinerziehende (über 30 Prozent), Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss (über 40 Prozent), allein lebende männliche Erwerbslose (50 Prozent), Teilzeitbeschäftigte (fast 20 Prozent), Menschen mit Migra­tions­hintergrund (über 30 Prozent). Bei Menschen über 65 ist der Anteil derer, die von Armut bedroht sind, relativ gering, allerdings steigt er seit Jahren entgegen dem Trend. So sind bereits über 40.000 RentnerInnen in Berlin auf Grundsicherung angewiesen.

Wem diese Daten noch nicht unerfreulich genug sind, für den gibt es ja noch die großen „Aber“. Das betrifft zum einen die Frage, wer in der Statistik überhaupt auftaucht. Bei der Auswertung der relativen Einkommensarmut werden nur die Verhältnisse von Menschen aus Privathaushalten berücksichtigt – also weder BewohnerInnen von Gemeinschaftsunterkünften noch von Altersheimen oder Psychiatrie. Die Menschen, die ohne festen Wohnsitz auf Berliner Straßen leben, tauchen in keiner dieser Statistiken auf. Ja, wir kennen nicht einmal deren genaue Zahl – zumindest das soll sich im nächsten Jahr ändern.

Zum anderen sagen Kennzahlen wie die relative Einkommensarmut recht wenig über die tatsächlichen Lebensverhältnisse aus. Simpel gerechnet: Es kann ja jemand 1.200 Euro netto verdienen – deutlich mehr als die kritischen 967 Euro also. Aber wenn sie oder er 800 Euro für die Miete zahlt, dann bleiben nur noch 400 Euro zum Leben.

„Die Mieten sind der große Armutstreiber“, sagt Armutsforscherin Gerull. Die Mietbelastungsquote lag 2014 in Berlin insgesamt bei 25 Prozent – der Durchschnittsberliner gab damals also ein Viertel seines Einkommens für die Miete aus. Bei den Menschen, die von Armut bedroht sind, waren es fast 40 Prozent. Aktuellere Daten wird es erst im nächsten Jahr geben. Fakt ist: Nirgendwo in Deutschland steigen die Mieten rasanter als in Berlin. ArmutsforscherInnen wie Gerull warten deshalb mit Sorge auf diese Zahlen.

Die relative Ein- kommensarmut gilt als Hauptindikator für Armut. In Berlin ist demnach armuts- gefährdet, wer von weniger als 967 Euro im Monat leben muss

„Armut ist eben nicht nur Einkommensarmut“, sagt die Professorin. Sie ist Verfechterin eines Armutsbegriffs, der die verschiedenen Lebenslagen miteinander verschränkt: Arbeit, Einkommen, Bildung, Wohnen, Gesundheit etc. Das klingt logisch, wird aber ohne genaue Daten eben nicht greifbarer.

Theoretisch sollte es diese Daten sogar geben. „Die Koalition wird eine ressortübergreifende Strategie zur Bekämpfung von Armut und zur Verbesserung gesellschaftlicher Teilhabe mit konkreten Maßnahmen auf den Weg bringen. Voraussetzung hierfür ist eine integrierte Armuts- und Sozialberichterstattung.“ Das steht so auf Seite 95 des Koalitionsvertrags der rot-rot-grünen Landesregierung.

Und wie ist es um diese inte­grierte Armutsberichterstattung bestellt, die die Grundlage für eine umfassende Strategie zur Armutsbekämpfung sein soll? Man prüfe derzeit, welche Kennzahlen bereits erhoben werden und ob sich diese auch aus datenschutzrechtlicher Sicht miteinander verknüpfen lassen, heißt es aus der zuständigen Senatsverwaltung für Soziales. Und weil das alles sehr komplex sei, gebe es noch keinen genaueren Zeitplan.

Angesichts der Tatsache, dass die Hälfte der Regierungszeit von Rot-Rot-Grün fast vorbei ist, darf man prognostizieren, dass das wohl nichts mehr wird mit der ressortübergreifenden Armutsbekämpfungsstrategie. Aber vielleicht gibt es in zwei Jahren zumindest eine Antwort auf die Frage, wie arm die BerlinerInnen wirklich sind.