Die Kraft der Popmusik

Der Schriftsteller Benedict Wells führte im Literaturhaus seine Lieblingssongs vor. Das funktionierte nicht, war aber trotzdem interessant

Von Jan Jekal

Wer einen geliebten Popsong zum wiederholten Male hört, versetzt sich zurück in die Gefühlswelt eines früheren Ichs; irgendwo zwischen den Akkorden der Gitarre oder den Schlägen der Bassdrum ist der Moment eingeschlossen, in dem man das Lied zum ersten Mal richtig gehört hat, in dem es, wie es manchmal auf unerklärliche Weise passiert, plötzlich resoniert hat, und dieser Moment wird dort, in dem Song, bewahrt und mit jedem neuen Hören wieder heraufbeschworen.

Wenn der Schriftsteller Benedict Wells also zum Beispiel an einem Dienstagabend im Literaturhaus das Lied „An Ocean in Between the Waves“ der Band The War on Drugs anmacht und das Lied dann sieben Minuten lang läuft, bei erloschenen Lichtern im dunklen Raum, dann vergegenwärtigt er sich einen womöglich lange vergangenen Moment; er bricht zu einer persönlichen Zeitreise auf und lädt das Publikum theoretisch ein, ihn zu begleiten; er hat das Lied ja schließlich angemacht.

Schwer in Worte zu fassen

Aber so funktioniert es natürlich nicht, wir im Publikum können nicht selbst erfahren, welche Gefühle und Erinnerungen das Lied in ihm heraufbeschwört, und so ist es für uns, zumal der Anlage im Literaturhaus etwas mehr Bass nicht schaden würde, in erster Linie konventioneller, etwas überlanger Heartland Rock, der da läuft. Das ist manchmal das Frustrierende an dem radikal subjektiven Erfahren von Popmusik. Es lässt sich nicht so leicht teilen. Und es lässt sich schwer in Worte fassen. Die Sprachlosigkeit des wortgewandten Wells an diesem Abend illustriert die Kraft von Popmusik.

Eigentlich ist an dem Abend von Arcade Fire die Rede. Das Cover von deren Debütalbum „Funeral“ ist an die Wand projiziert; der Titel der Veranstaltungsreihe ist „Die Scheibe meines Lebens“. Wells, der überaus sympathisch und völlig unprätentiös daherkommt, spricht in der Sprache eines Fans über sein Lieblingsalbum, nicht als Intellektueller oder Experte.

Moderator Florian Werner will häufig über die Texte einiger Lieder sprechen, und das ist ja auch naheliegend, Wells ist schließlich Schriftsteller; recht früh sagt der jedoch, dass er auf die Texte bis auf wenige Aufnahmen nie so richtig geachtet habe, dass er sich Songtexte grundsätzlich nicht merken könne. Es gehe ihm um das Gefühl, das die Musik in ihm auslöst, und dann spricht Wells über den Maximalismus der Band, deren Ästhetik der Überwältigung, und er beschreibt das Hochgefühl, das er empfindet, wenn ein Lied einer effektiven Dramaturgie folgt, wenn es einen Spannungsbogen gibt, der am Ende zu einer kathartischen Explosion führt, wenn man ­gegen Ende denkt, jetzt haben sie ihr Pulver verschossen, und sie dann doch noch einen draufsetzen. Er strahlt die ganze Zeit, während er spricht.

Sehnsucht am Anfang

Der Moderator fragt, ob er sich das Epische der Band für sein Schreiben zum Vorbild nehme. Eher im Gegenteil, entgegnet der, zumindest bei seinem letzten Roman, dem Familiendrama „Vom Ende der Einsamkeit“. Das sei ja, was die Konstruktion der Handlung anging, eine Kitschbombe gewesen, die es im Verlauf des Schreibens immer weiter zu entschärfen galt. Aber er höre durchaus Musik beim Schrei­ben, vor allem auch beim Nachdenken vor dem Schreiben.

Gerade arbeite er an einem Roman, der in den Achtzigern – er sagt „Eighties“ – im US-Bundesstaat Missouri spiele, einer Coming-of-Age-Geschichte, und da habe er gerade eine Playlist von 500, 600 Liedern aus der Zeit, die alle sehr gut seien und die ihn in die richtige Stimmung brächten.

Am Anfang eines Buches stünden entweder Erfahrung oder Sehnsucht, und in seinem Fall, da er nicht über Bayern in den Neunzigern schreiben wolle, sei es immer die Sehnsucht.