Mit der Stimme kam die Figur

Eine poetische Auseinandersetzung mit der Liebe zu Mordwerkzeugen: Jennifer Clements Roman „Gun Love“ erzählt vom Waffenschmuggel aus den Vereinigten Staaten nach Mexiko

Sie schreibt gefährlich: die Schriftstellerin Jennifer Clement Foto: Roberto Ricciuti/getty images

Von Jan Jekal

Es gibt in den USA mehr Schusswaffen als Menschen. Seit Jahresbeginn wurden dort 11.385 Menschen erschossen. (Stand, das ist wichtig, schließlich wächst die Zahl mit jedem Tag: 11. Oktober.) In diesem Jahr wurden, statistisch, täglich ein bis zwei Kinder unter zwölf Jahren erschossen oder angeschossen. 1.255 versehentlich abgegebene Schüsse wurden gemeldet, nicht wenige von diesen, davon ist auszugehen, mit tödlichen Folgen.

Im Gun Violence Archive, einer Online-Organisation, werden sämtliche Vorfälle von Waffengewalt in den USA dokumentiert und gesammelt. Jeder Akt häuslicher Gewalt, jeder Amoklauf, jeder Überfall, jeder bewaffnete Bandenkampf wird dort in eine lange Liste aufgenommen, ohne Kommentar, als stummer Appell.

Einige besonders starke Passagen aus Jennifer Clements neuem Roman „Gun Love“ bestehen aus solchen einfachen Aufzählungen, aus diesen nüchternen Aneinanderreihungen von Eckdaten, die das Entsetzliche beherrschbar machen. Waffen scheinen zu sprechen in Clements Buch, zumindest kann Pearl, die Protagonistin, sie hören, wie sie von ihren Opfern erzählen; von zwanzig Schulkindern und zwei Polizisten, von einer Neunjährigen und fünf Collegestudenten, von zwei Frauen und einer Gruppe Teenager, und so geht es weiter und hört nicht auf.

Smith & Wesson, Remington, Bushmaster, Beretta, Glock. Sturmgewehre, Handfeuerwaffen, Flinten und Pistolen, Clement zählt die Markennamen und Modelle auf, bis sie keine Waffen mehr sind, sondern nur noch Worte; sie verwandelt sie in Poesie. Der mexikanisch-amerikanischen Autorin gelingt mit ihrem Roman eine poetische Auseinandersetzung mit der Waffenliebe, dieser nordamerikanischen Volkskrankheit, eine lyrische Verarbeitung der Allgegenwärtigkeit von Schusswaffen, ihrer Verlockungen, ihrer Zerstörungskraft.

Als Sujet wählt sie einen wenig bekannten Aspekt des sonst ausführlich diskutierten Themenkomplexes, nämlich den Waffenschmuggel von den Vereinigten Staaten nach Mexiko. Das Buch ist in der ersten Person erzählt. Aus der Perspektive von Pearl, einer empfindsamen Teenagerin, schreibt Clement mit konsequentem Stilwillen in einfachen Sätzen, einer leichten Sprache, reich an Metaphern.

„Meine Mutter war eine Tasse Zucker“, so beginnt das Buch. „Man konnte sie jederzeit ausleihen.“ Pearl und ihre Mutter Margot leben in einem Auto, das am Rande einer Wohnwagensiedlung in der Mitte Floridas steht. Margot kommt aus gutem Hause. Als Siebzehnjährige ist sie aus diesem Haus geflohen, mit dem Säugling Pearl. Der 1994er Mercury Topaz sollte nur eine Übergangslösung sein. Nun lebt sie noch immer darin, mit ihrer Tochter, und Relikte aus ihrer Zeit als Sprössling der Bourgeoisie liegen im Wagen verteilt; gutes weißes Porzellan zum Beispiel, Limoges, aus Frankreich.

Jennifer Clement: „Gun Love“. Aus dem amerikanischen Englisch von Nicolai von Schweder-Schreiner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 251 Seiten, 22 Euro

Auf dem Armaturenbrett spielt Margot Klaviermusik von Rachmaninoff. Mutter und Tochter leben nahezu symbiotisch. Bald tritt ein Mann in Margots Leben und somit tritt er auch in das Leben von Pearl. Dieser Mann hat eine Waffe. Wir wissen von Tschechow, dass das nichts Gutes verheißt.

Früher, ganz früher, war dort, wo nun die Wohnwagensiedlung steht, eine Begräbnisstätte US-amerikanischer Ureinwohner. „Indian Waters Trailer Park“ heißt die Wohnwagensiedlung noch heute. Die Gegend wird als Giftmülldeponie genutzt, die Erde dort ist aus dem Gleichgewicht geraten. Pflanzt man einen Zitronenbaum, wächst eine Palme.

Dass der Symbolismus der auf heiligem Indianergrund errichteten Mülldeponie in der US-amerikanischen Rezeption ihres Romans untergegangen ist, hat Jennifer Clement irritiert. Sie weist im Gespräch darauf hin, dass die Geister amerikanischer Ureinwohner im weiteren Verlauf der Geschichte doch von großer Bedeutung seien, keine einzige Rezension aber habe diesen entscheidenden Aspekt erwähnt.

Man bekommt den Eindruck, dass Clement sich selbst die beste Leserin ist. Im Interview zitiert sie aus ihrem Werk, analysiert scharfsinnig, interpretiert bereitwillig; sie macht das, was Autorinnen üblicherweise andere machen lassen, sie dirigiert die Sekundärliteratur zu ihrem eigenen Roman. Womit nicht der Eindruck entstehen soll, Clement wäre prätentiös. Fast im Gegenteil: Zu behaupten, die Rezeption des eigenen Werks würde sie nicht interessieren, wäre ja prätentiös. Offenzulegen, dass sie alles aufmerksam verfolgt, was über sie geschrieben wird, ist eher sympathisch.

Wenn sich der Eindruck ergibt, dass sie insgesamt ein wenig unzufrieden mit dem Zuspruch der Kritiker ist, dann zeugt das womöglich von einer realistischen Einschätzung der Qualität ihres Schreibens. „Gun Love“ ist nämlich ein sehr guter Roman, der sich seinem Thema mit Poesie und Empfindsamkeit und ohne Didaktik und Soziologisieren widmet. Dass er bei der amerikanischen Kritik, wenngleich wohlwollend aufgenommen, bisher eher untergegangen ist (die Jahreslisten kommen ja noch), ist ihr ein Rätsel, so scheint es, und das durchaus zu Recht.

„Gun Love“ ist ein Gegenstück zu Clements vorigem Roman, „Gebete für die Vermissten“, der 2014 erschienen ist. Dort erzählt ebenfalls ein Teenagermädchen ihre Lebensgeschichte, die voll unvorstellbarer Gewalt ist, und sie tut das ebenfalls in verstörend lyrischer Sprache. Das Buch beginnt im mexikanischen Bundesstaat Guerrero, in einer Gegend, in der Mütter ihre pubertierenden Töchter in Erdlöchern verstecken oder als Jungs verkleiden, damit sie nicht von Banden verschleppt werden. Diese Mädchen gibt es wirklich, diese Erdlöcher gibt es wirklich. Es schreiben keine Journalisten darüber, denn was mit Journalisten, die darüber schrieben, passierte, kann man sich ja denken.

Mit dem Schutzschild der Fiktion kann Clement investigative Recherchearbeit betreiben

Mit dem Schutzschild der Fiktion kann Clement, übrigens auch die Präsidentin von PEN Internatio­nal, investigative Recherchearbeit betreiben, die anderen nicht möglich wäre. Ein gefährliches Buch war „Gebete für die Vermissten“ dennoch. Sie musste nach seiner Veröffentlichung das Land für einige Zeit verlassen und lebt erst seit Kurzem wieder in Mexiko-Stadt. In den Bundesstaat Guerrero könne sie heute nicht mehr reisen. „Ohne Einladung sollte man dort nicht auftauchen“, sagt sie, die Gegend sei vollständig unter Kontrolle der organisierten Kriminalität.

An einem Punkt im Gespräch macht sie deutlich, dass ihre Romane nicht mit ihrem sozialen Bewusstsein beginnen, nicht mit dem Bedürfnis, auf unbeachtete Missstände hinzuweisen, sondern mit einem schwer zu fassenden kreativen Impuls. „Gun Love“ zum Beispiel begann mit der Stimme der jungen Südstaatlerin Pearl, mit ihrer Stimme und dem Satz „Ich? Ich wuchs in einem Auto auf“.

Diese Stimme und dieser Satz waren mit einem Mal da, auf magische Weise aus ihrem Unbewussten an die Oberfläche geschwommen, und mit dieser Stimme kam die Figur und mit der Figur die Geschichte. Kein politischer Impetus also, mit dem sie die Arbeit am Buch begann. Clement sagt jedoch auch: „Ich möchte denen, die keine Stimme haben, eine Stimme geben. Mich interessiert zudem, wie machtlose Menschen sich ihrer selbst ermächtigen. Es ist so leicht anzunehmen, dass jene sich ihrer Lage einfach fügen, aber tatsächlich tun sie doch immer etwas, um ihre Würde zu bewahren.“