Micha BrumlikGott und die Welt
: Wie Fernando Pessoa Fragen nach Identität beantwortete

Nein, das Land, unser Land ist nicht mit sich im Reinen – im Herbst werden die Tage kürzer und die Deutschen (das Volk, die Bevölkerung, die Leute ?) scheinen nicht mehr zu wissen, wer sie sind, was sie sollen oder wollen. Sind sie, sind wir ein politisches Volk – also ein Demos – oder ein Volk bloß seiner Herkunft nach – also ein Ethnos? Die zweieinhalb Jahrtausende alten Kategorien des klassischen Athen greifen noch immer – auch in diesem Herbst, der mit seiner Frankfurter Buchmesse wie immer auch ein Herbst der Bücher sein wird.

Anlass genug, um an eine noch immer nicht gebührend gehörte Stimme zu erinnern. Der geläufige sozialwissenschaftliche Begriff für die oben angesprochenen Fragen nach dem „Selbst-Sein“ lautet „Identität“, also der Inbegriff des „Sich-selbst-gleich-Seins“ – und das, obwohl schon Hegel gesehen hat, dass dieser Zustand erst auf dem Totenbett erreicht wird. Gewiss: jedes Individuum will wissen, wer es ist, welches die konstanten und wechselnden Eigenschaften seiner Existenz sind, indes: Es ist höchst fraglich, ob die Frage nach der „Identität“ von Individuen eins zu eins auf die „Identität“ von – sagen wir – Staatsvölkern übertragen werden kann. Hat man sich erst einmal klar gemacht, wie schwierig diese Frage schon für einzelne Personen und ihr Leben zu beantworten ist, erschließt sich schnell, um wie viel schwieriger sie für größere Gruppen von Menschen – vom Fan Club bis zur Nation – zu beantworten ist.

Es ist ein noch immer viel zu wenig bekannter Schriftsteller, der diese Thematik wie kein anderer bearbeitet, ausgedrückt und dargestellt hat: Der Portugiese Fernando Pessoa (1888–1935) ging dabei so weit, sein Werk, das nun endlich fast vollständig auf Deutsch vorliegt, unter einer Vielzahl von „Heteronymen“, männlichen Namen: Ricardo Reis, Álvaro de Campos, Baron von Teive, António Mora, Bernardo Soares sowie Alberto Caeiro zu verfassen. Das Leben hinter den Namen, die Existenz eines bürgerlichen Selbst, verlief unauffällig: Nach einer Jugend in Südafrika lebte Pessoa, seitdem er 17 war, in Portugal, studierte Literaturwissenschaft und arbeitete als Handelskorrespondent.

Ein Zimmer mit Spiegeln

Identität? Als Vorbemerkung zu einer von Inés Koebel kongenial ins Deutsche übertragenen Anthologie von Pessoas Selbstzeugnissen („Ich Ich Ich. Selbstzeugnisse und Erinnerungen von Zeitgenossen, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018, 304 Seiten, 25 Euro) heißt es: „Ich fühle mich vielfältig. Ich bin wie ein Zimmer mit unzähligen, wundersamen Spiegeln, die eine einzige zentrale Wirklichkeit falsch und verzerrt reflektieren, eine Wirklichkeit, die sich in allen und in keinem dieser Spiegel wiederfindet.“

Portugal und seine Sprache haben hierzulande noch längst nicht jenen Status erlangt, der ihnen gebührt; Fernando Pessoa noch längst nicht jenen Rang, der ihm neben – sagen wir Franz Kafka, der sein Leben ebenfalls im Büro fristete – als Autor zukommt. Portugal war neben Spanien die älteste Kolonialmacht, und der postkoloniale Diskurs hat noch zu wenig berücksichtigt, dass und wie die Erfahrung anderer Welten auch die „Identität“ der europäischen „Völker“ verändert hat.

Hier hat Deutschland Nachholbedarf: Wir können von der Stimme der europäischen Peripherie, von Fernando Pessoa, lernen, was es heißt, dass Menschen in „versöhnter Verschiedenheit“ – so Theodor W. Adorno in seinen „Minima Moralia“ – leben. Unter uns und mit uns.

Inés Koebel hat in jahrelanger mühevoller Arbeit fast alle seine Werke in ein vielfältiges Deutsch gebracht – stellte in dem von ihr herausgegebenen Band „Ich Ich Ich“ treffend fest, dass Pessoas Verwandlungen, seine tausend Gesichter zumal in ihrer Vielstimmigkeit einsichtig sind.

Micha Brumlik ist Mitarbeiter am Zentrum für jüdische Studien und lebt in Berlin