„Flüchtlinge haben auch Angst“

Die St. Jacob Kirche betreute die mutmaßlichen Täter in Köthen. Ihr Pfarrer stellt sich gegen Hass

Wolfram Hädickeist seit 2010 Pfarrer an der St. Jakob Kirche in Köthen. Er engagiert sich zudem in der Anti-Atom-Bewegung.

Interview Andreas Speit

taz: Herr Hädicke, als Sie von dem tragischen Tod von Markus B. hörten, was waren Ihre ersten Gedanken?

Wolfram Hädicke: Oje, dachte ich. Meine Gedanken waren bei der Familie von Markus B., aber auch gleich war die Sorge da, was nun auf uns zurollen könnte. Die Geschehnisse in Chemnitz waren mir mehr als eine Warnung.

Die mutmaßlichen Täter waren in einer Einrichtung in Ihrer Trägerschaft?

In den vergangenen Jahren hatten wir sechs jugendliche Flüchtlinge aus Afghanistan bei uns im Kinder- und Jugendhilfezentrum „Arche“ aufgenommen. Das Jugendamt hatte sich mit der Bitte an uns gewandt. Das Miteinander zwischen den Jugendlichen und den Mitarbeitern lief ohne große Reibungen, das waren fast Musterschüler, freundlich, lerninteressiert und zuvorkommend. Mit diesen positiven Erfahrungen nahmen wir auch gerne wieder Jugendliche aus Afghanistan auf, als das Jugendamt fragte. Zu dieser Gruppe gehörten die beiden jetzt Inhaftierten und der Geflüchtete. Und ich muss sagen, diese Gruppe war wesentlich schwieriger.

Was meinen Sie damit?

Im Miteinander traten schnell Probleme auf. Sie hielten sich an keine Regeln, zeigten insbesondere keinen Respekt vor den Mitarbeitern, es kam zu Gewalttätigkeiten. Später waren auch Drogen im Spiel. Polizeieinsätze waren die Folge. Im Raum stand zudem, dass einer ein Gefährder sein sollte.

Wie haben Sie reagiert?

Wir versuchten, an die Einzelnen in dieser Gruppe besser heranzukommen. Wir überlegten, welche Traumatisierungen sich hier vielleicht auswirken, welche psychologische Problematik vorliegen könnte oder ob eine Steuerung von anderen Personen im Hintergrund dieses Verhalten hervorrief. Interne Fortbildungen zu Radikalisierungsprozessen fanden auch statt. Ich befürchte, dass wir sie trotz aller Mühe unserer hoch engagierten Mitarbeiter nicht erreichten. Im Nachhinein habe ich sie auch immer eher als Gruppe und weniger als Einzelne wahrgenommen. Aber all diese Aspekte müssen auch nicht automatisch zu so einer Gewalt führen.

Seit Sonntag richten Sie in der St. Jacob Kirche Friedens­gebete aus. Wer kommt zu Ihnen?

Nicht bloß gläubige Menschen. Die Kirche scheint für viele gerade jetzt ein Ort des Beisammenseins zu sein, um zu gedenken, inne zu halten und auch nachzudenken. Wer mag, kann nach vorne gehen und eine Kerze anzünden. Beim letzten Gebet dauerte das Kerzenanzünden eine halbe Stunde – so groß war der Zuspruch. Vielleicht darf man die Teilnehmer als Zivilgesellschaft von Köthen bezeichnen, die auch einen Ort zum Trauern suchen und hierfür nicht auf Aufmärsche gehen möchten.

Sie haben auch Geld für die Familie von B. gesammelt.

Ja, wir möchten auch für die Familie da sein. Das gesammelte Geld soll für die Bestattung sein.

Hat sich die Stimmung in Köthen geändert?

Wenn ich durch die Stadt gehe, erlebe ich keine atmosphärische Veränderung. Doch wenn die Aufmärsche laufen, spürt man die Gewalt und den Hass. Viele Köthener haben da Angst. Die Mehrheit in der Stadt scheint aber eher unberührt.

Und in Ihrem Umfeld?

Die Menschen, die sich in der Flüchtlingshilfe engagieren, sind stark betroffen. Bis zu jenem Abend lief die Integration von Flüchtlingen in Köthen dank des Engagements so gut, dass der Bundespräsident die Arbeit von „Willkommen in Köthen – Weltoffen und bunt“ auszeichnete. Sie fürchten nun, dass der rassistische Resonanzboden in der Stadt mehr Zuspruch finden könnte. Diese Sorge haben auch die Flüchtlinge. Sie fürchten, dass das auf sie zurückfällt, und haben eine Wut auf die Täter.