Die Herdentiere

Für den Ökonomen Stephan Schulmeister ist die Finanzkrise von 2008 nur ein Symptom. In seinem Buch rechnet er mit den neoliberalen Theorien ab

Pure ­Verzweiflung: 2008 an der Börse der chinesischen Millionenstadt Huai’an in China Foto: Chang­zheng/ChinaFotoPress/laif

Von Ulrike Herrmann

Vor zehn Jahren begann die Finanzkrise, die bis heute nicht überwunden ist. Aber was war die Ursache? Die gängige Erzählung ist, dass die US-Banken leider, leider Ramschhypotheken zu „Wertpapieren“ transformiert und dann weltweit verscherbelt hätten.

Der österreichische Ökonom Stephan Schulmeister blickt tiefer. Für ihn ist die Finanzkrise 2008 nur ein Symptom. Der Irrweg begann bereits vor mehr als 40 Jahren – als sich die Neoliberalen in Theorie und Politik durchsetzten. Seither können Banken und Fonds unbegrenzt spekulieren, während sich Investitionen in die Realwirtschaft kaum noch lohnen.

Schulmeister ist einer der prominentesten Ökonomen Österreichs, doch bisher hat er vor allem Aufsätze und Zeitungsartikel geschrieben. Es fehlte ein „richtiges“ Buch, wie er es nennt – daher hat er sein „Lebenswerk“ nun im Alter von 70 Jahren nachgeliefert. Schulmeister ist eine Rarität unter den Volkswirten, denn er hat immer auch empirisch gearbeitet. Er schrieb nie nur abstrakt über die „Finanzmärkte“, sondern hat sich vor Ort an den Börsen und bei den Banken umgesehen. Als in den 1980er Jahren die Wettgeschäfte mit Derivaten zugelassen wurden, war Schulmeister schon wenig später in den Handelsräumen der Banken unterwegs, um die Spekulation mit Rohstoffen, Devisen, Anleihen und Aktien zu beobachten.

Er analysierte bis zu 2.580 verschiedene Computermodelle, die bei der Spekulation verwendet wurden, und dabei zeigte sich: „Die meisten Modelle waren profitabel; die Wahrscheinlichkeit mit einem einzelnen Modell einen Verlust zu machen, wenn man ihm konsequent folgte, lag nahe bei null.“

Die Computermodelle funktionierten nicht etwa, weil die Börsianer besonders klug wären, sondern weil die Finanzwirtschaft eine Art Sondersteuer auf die Realwirtschaft erhebt. Mit ihren Spekulationen erzeugen die „Finanzalchemisten“ genau jene Kapriolen bei den Devisenkursen oder Rohstoffpreisen, gegen die sich dann die normalen Unternehmen absichern müssen – indem sie Derivate bei den Banken kaufen.

In den Handelsräumen der Banken zeigt sich auch, wie falsch die Theorie der Neoliberalen ist. Sie gehen von einem Gleichgewicht der Märkte aus, denn die Menschen würden stets von „rationalen Erwartungen“ gelenkt. Rationalität kann es bei der Spekulation jedoch nicht geben – weil die Zukunft prinzipiell unsicher und nicht vorherzusehen ist. Also setzen die allermeisten Händler aufs „Trending“, wie Schulmeister beobachten konnte. Die Börsianer folgen schlicht der Herde, was selbst dann profitabel ist, wenn die Herde in die falsche Richtung läuft. Bis es zum Crash kommt.

Schulmeisters Thesen kommen nie nackt daher, sondern sind stets mit statistischen Grafiken illustriert. So genügt oft schon ein Blick, um zu erfassen, welche tiefen Spuren der Siegeszug der Neoliberalen hinterlassen hat. Ein Beispiel: Da sich Investitionen in die Realwirtschaft nur noch eingeschränkt lohnen, wurden auch normale Unternehmen zu Quasibanken. Bis zum Anfang der 1970er Jahre besaßen die Firmen vor allem Maschinen, während ihr Finanzkapital nur etwa ein Viertel der Bilanz ausmachte. Inzwischen ist das Finanzvermögen in den Betrieben rasant gewachsen – und hat den Wert der Produktionsanlagen längst überholt.

Diese „finanzkapitalistische Spiel­an­ordnung“, wie Schulmeister sie nennt, produziert ihren eigenen Teufelskreis: Ohne Investitionen in die echte Produktion entstehen zu wenig Arbeitsplätze, was wiederum auf die Löhne drückt, so dass die Nachfrage stagniert – weswegen sich Investitionen noch weniger lohnen. Das Wachstum lahmt, und nur die Spekulation boomt, was dann regelmäßig neue Finanzkrisen auslöst.

Die Ökonomie ist eine besondere Wissenschaft, denn sie verändert das Objekt, das sie untersucht. Sie studiert die Wirtschaft nicht nur, sondern prägt sie auch, indem sie politische Ratschläge erteilt. Der westliche Kapitalismus lässt sich daher nicht verstehen, ohne die ökonomischen Theorien zu kennen. Schulmeister stellt fast alle wichtigen Strömungen vor – ob Smith, Marx, Keynes, Friedman, Hayek oder Piketty.

Das Buch ist nicht nur für Experten gedacht, sondern auch für Laien. Provokant ist es „den Neoliberalen in allen Parteien, in den Medien und in der Wissenschaft“ gewidmet. Allerdings werden Nichtökonomen durchaus gefordert. Aber die Anstrengung lohnt sich. Schulmeister hat tatsächlich ein „Lebenswerk“ verfasst.