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: Versöhnung mit der Mafia?

Der neue Präsident López Obrador will Mexiko von Korruption befreien. Mit seiner Forderung nach Vergebung eckt er aber bei vielen Gewaltopfern an

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ist Autorin und Kulturwissenschaftlerin und forscht zu Gewalt, Raum und Erinnerung am Lateinamerika-Institut der FU Berlin.

Mexiko steht vor einer Zeitenwende: Mit Andrés Manuel López Obrador ist ein Politiker ins Präsidentenamt gewählt worden, der unermüdlich die „Mafia an der Macht“ anprangert, also die zunehmend kartellartig organisierte Staatspartei PRI und ihre politischen Komplizen. Sie alle wurden nun mit einer Wucht aus Ämtern, Parlamenten und Landesregierungen gespült, die kaum einer für möglich gehalten hätte. Ein Aufatmen geht durch das Land. Zum ersten Mal seit 30 Jahren ist von Wahlbetrug keine Rede mehr.

Schon in der Wahlnacht gab der Gewählte reconciliación, Versöhnung, als neue Devise aus. Nicht mehr der Mafia, sondern der Korruption wird fortan der Kampf angesagt, aus einem politischen wird ein moralischer Imperativ. Fatal wird der Leitspruch der „Versöhnung“ angesichts der Gewaltkatastrophe, die das Land seit einer Dekade überzieht. Von ihr zeugen über 200.000 Todesopfer sowie rund 37.000 Verschwundene, mehr als in allen südamerikanischen Militärdiktaturen zusammen. Bis zu seinem Amtsantritt im Dezember muss der künftige Präsident eine Strategie der „Befriedung“ vorlegen. Für einen Neuanfang, so behauptet López Obrador, „müssen wir lernen zu vergeben“.

Das sahen andere Länder anders. In Argentinien etwa, dem Vorbild für lateinamerikanische Vergangenheitspolitik, gab es schon nach Ende der Diktatur in den 1980er Jahren einen Großprozess gegen sämtliche Junta-Generäle. Zwar wurden später auch hier Schlusstrichgesetze verabschiedet, um die Militärs ruhigzuhalten. Doch Mitte der 2000er Jahre machte die Kirchner-Regierung den Weg dafür frei, Tätern und Mittätern doch noch den Prozess zu machen. Das Wort ­reconciliación kommt im Vokabular von Opfer- oder Menschenrechtsorganisationen bis heute nicht vor.

Natürlich ist organisierter Staatsterror nicht dasselbe wie das diffuse Terrorregime, das sich im Mexiko mit der Militarisierung der staatlichen „Drogenbekämpfung“etabliert hat. Kein monolithischer Staat steht hier dahinter, sondern ein Geflecht aus kriminellen Ökonomien und korrupten Staatsbediensteten, von einfachen Polizisten bis zum Gouverneur. „Makrokriminalität“ nennen die Experten diese Seilschaften, viele Mexikaner sprechen von „Narco-Estado“, Drogenstaat. Korruption, die López Obrador so glühend bekämpfen will, ist tatsächlich das Scharnier, über das sich Teile des Staates mit den Kartellen verflechten. Dass dieses Geflecht sich derart ausbreiten konnte, hat aber auch mit der tief verankerten „Kultur“ der Straflosigkeit zu tun. Schon für das Massaker an Studenten im Oktober 1968 wurde kein einziger Verantwortlicher rechtskräftig verurteilt. Heute sind Massaker, Folter und Verschwindenlassen ökonomisch motiviert, als Waffe im brutalen Konkurrenzkrieg um Märkte, Routen und Territorien. Um den Bann der Straflosigkeit zu brechen, täte strafrechtliche Aufarbeitung not – und eine Rekonstruktion, wie der Narco-Estado funktioniert hat und wie sich das Staatsversagen erklären lässt.

Die Chancen dafür stehen nicht schlecht: Im neu berufenen Kabinett sind viele als integer geltende Persönlichkeiten versammelt – eine neue Garde, überwiegend in das mafiöse Geflecht nicht verstrickt. Bei den gerade angelaufenen „Versöhnungsforen“ tun sich jedoch tiefe Gräben auf: Als der künftige Präsident zum Auftakt erneut für Versöhnung warb, erinnerten Angehörige von Toten und Verschwundenen an die Mantras der lateinamerikanischen Menschenrechtsbewegungen, „Kein Vergeben, kein Vergessen“ und „Gerichtsprozess und Bestrafung“. López Obrador scheint das fremd. „Ich glaube nicht an ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ “, entgegnete er den Opfern – eine bizarre Gleichsetzung des Verlangens nach Recht und Gerechtigkeit mit biblischen Rachegelüsten.

„Transitional Justice“ lautet nun auch in Mexiko die neue Zauberformel. Gemeint ist ein Bündel von Maßnahmen, die im Übergang von Diktatur zur Demokratie oder, wie in Kolumbien, vom Bürgerkrieg zum „Postkonflikt“helfen sollen, massenhafte Menschenrechtsverletzungen zu bewältigen. Dazu gehören Amnestien oder Strafminderung gegen Information, Wahrheitskommissionen, „Wiedergutmachung“ und „Erinnerungskultur“.

In Mexiko aber gibt es kein Übergangsszenario, wie es im Buch steht. Es hat im 20. Jahrhundert keine Militärdiktatur erlebt und keinen Bürgerkrieg. Von Postkonflikt oder „historischer Erinnerung“ kann keine Rede sein, 2017 gilt mit 25.000 Gewaltopfern als bislang blutigstes Jahr der Terrordekade. Hier geht es weniger um Vergessen als um Verdrängung, also um die Gewöhnung an den Exzess. Auch die Aussicht auf „Entschädigung“ weisen viele Familien von Verschwundenen zurück. Eher sind sie für einen Deal mit Tätern, wenn diese ihr Wissen, etwa über Grabstellen, gegen Haftminderung preisgeben. Allerdings müssten dazu Mörder und ihre Helfer erst einmal glaubhaft überführt sein. In Mexiko sind die Gefängnisse voll von Menschen, die ohne Urteil oder nur aufgrund erfolterter Geständnisse hinter Gittern sitzen.

Von Postkonflikt kann nicht die Rede sein: 2017 war das bisher blutigste Jahr der Terrordekade

Auch gegen Wahrheitskommissionen ist nichts einzuwenden. Doch sollten diese nicht von vornherein zur juristischen Folgenlosigkeit verdammt sein. Wie damals, als der rechtsliberale Präsident Vicente Fox (2000–2006) eine Sonderstaatsanwaltschaft zur Aufklärung der Repression der 1970er Jahre einrichten ließ. Im Abschlussbericht sind Folter und Geheimgefängnisse minutiös dokumentiert. Verurteilt wurde niemand.

Natürlich geht es in Mexiko zunächst um die Eindämmung der Gewalt. Dazu braucht es neben einer Demilitarisierung auch Verhandlungen. Verhandlungen mit Kartellchefs, also Massenmördern? Ein fieser Gedanke. Verhandeln aber, und das ist ein entscheidender Unterschied, ist nicht dasselbe wie vergeben.