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Kraniche und Kaiserbäder

Auf dem Ostseeküsten-Radweg von Travemünde nach Usedom. Der Darß ist am schönsten. Aber die Tour bietet noch weitere Highlights

Kilometerlanger, wilder und fast menschenleerer Strand: Auf dem Darß ist solch ein Kleinod noch zu finden Foto: Jens Büttner/dpa

Von Reimar Paul

Kein Hotel, keine Beachvolleyballtribüne, keine Fischbrötchenbude und noch nicht mal Strandkörbe: Der Weststrand auf dem Darß ist ein Stück Wildnis im geordneten Deutschland. Nur zu Fuß oder mit dem Rad zu erreichen, erstreckt er sich über fast 13 Kilometer. Windschiefe Bäume beugen sich über den Sandstreifen, Kinder haben umgeworfene Stämme zu einem Klettergerüst umfunktioniert. Zwei Mädchen sammeln Hühnergötter, das sind Steine mit natürlichen Löchern drin.

Der Darß, mittlerer Teil einer Halbinsel, zu der außerdem noch Fischland und Zingst gehören, liegt etwa auf halber Strecke des Ostseeküsten-Radweges von Travemünde nach Usedom. Die Frage, ob man die Tour von Westen nach Osten oder in umgekehrter Richtung fahren sollte, ist nicht so einfach zu beantworten. An der mecklenburgischen Ostseeküste kommt der Wind, wie überall in Norddeutschland, meistens aus westlichen Richtungen – meistens, aber längst nicht immer. Wir sind im Westen gestartet und hatten Glück mit Wind und Wetter. Acht Tage waren wir unterwegs.

Am Anfang der Radtour steht eine kurze Schiffsüberfahrt. Von dem im Sommer rummeligen Travemünde dümpelt die Fähre auf die Halbinsel Priwall. „Da hinten fing schon die Ostzone an“, klärt der Bootsmann eine Reisegruppe aus dem Rheinland auf. „Die Grenzer haben mit ihren Ferngläsern immer rüber geguckt, ob sie welche oben ohne am Strand entdecken konnten.“

Das erste Stück führt der Ostseeküsten-Radweg ein paar Kilometer vom Meer entfernt durch ein Naturschutzgebiet. Früher ein veritabler Urwald, gibt es im „Klützer Winkel“ heute nur noch einige kleine bewaldete Enklaven. Obwohl der Radweg intensiv beworben wird und sehr gut ausgeschildert ist, sind zumindest auf diesem Teilstück kaum Radler unterwegs. Die Gegend ist dünn besiedelt, der Strand menschenleer.

Kilometerlanger Sandstrand

Das ändert sich in Boltenhagen. Der Ort firmierte dank seines kilometerlangen Sandstrandes schon vor 200 Jahren als Familienbad. Schon am ersten Abend stellt sich heraus, dass es zur Ferienzeit mit Unterkünften direkt am Meer nicht so einfach ist – jedenfalls, wenn man nicht vorgebucht hat und nur für eine Nacht bleiben will. In zweiter oder dritter Reihe findet sich aber meist doch noch ein Zimmer. Ein Tipp sind Jugendherbergen: Viele Häuser wurden in den vergangenen Jahren komplett modernisiert oder, wie auf dem Darß, ganz neu gebaut. Nahezu alle Herbergen bieten auch Zweibettzimmer an.

Manchmal direkt am Strand, bisweilen durch das Hinterland führt der Radweg weiter in die Hansestadt Wismar mit ihrem sorgfältig sanierten und von der Unesco zum Welterbe erklärten Zentrum. Über die Ostseebäder Rerik und Bad Kühlungsborn gelangen wir ins älteste deutsche Seebad Heiligendamm. Von der Ballustrade des Kempinski Grand Hotel haben Kanzlerin Angela Merkel, George W. Bush und ihre Freunde beim G8-Gipfel im Jahr 2007 in die Kameras gelächelt.

Langsam schieben sich zwei Schiffe mit russischer Flagge durch den Warnemünder Seekanal an uns vorbei. Vor den zahlreichen Kneipen spielen russische Musikanten auf und singen schwermütige Lieder. Warnemünde ist ein Stadtteil und gleichzeitig der Seehafen Rostocks. Die wohlhabenden Hansestädter kauften dem chronisch klammen Landesherrn 1323 das linke Warnowufer ab. Die einstige Fischersiedlung musste danach über Jahrhunderte Armut und Bevormundung ertragen. Das änderte sich erst, als wiederum reiche Rostocker Meer und Strand im 19. Jahrhundert als Erholungsgebiet entdeckten.

Die Etappe über die Halbinsel Fischland-Darß-Zingst zählt zu den Höhepunkten der Tour. Vom Radweg, der meist am Saaler Bodden – Bodden sind flache, durch Inseln oder Halbinseln von der offenen Ostsee abgetrennte Gewässer – oder direkt am Meer entlang führt, lohnen Abstecher auch in den „Darßer Urwald“ sowie Stopps in den Dörfern Ahrenshoop und Born.

Ahrenshoop, das „Worpswede der Ostsee“, verdankt diesen Namen den zahlreichen Künstlern und Intellektuellen, die sich ab etwa 1900 in dem vormaligen Fischerdorf niederließen. Im benachbarten Born ist der Blick vom Hotel „Walfischhaus“ auf den Bodden umwerfend. Ein Segelboot hat Kurs auf den kleinen Hafen genommen, Feriengäste genießen die Abendsonne auf Bänken am Wasser, am Fischbrötchenstand ist noch Betrieb. Weit weg, am anderen Ufer, ist das rote Dach der Kirche von Saal zu sehen. Über dem Bodden kreist ein Fischadler. Auch im weiter westlich gelegenen Zingst finden sich im Herbst Vogelgucker aus aller Welt ein. Sie beobachten Zehntausende Kraniche, die sich auf dem Flug nach Süden auf den Salzwiesen noch einmal richtig vollfressen.

Restaurierte Hansestädte

Immer am Meer entlang, und doch stets etwas Neues: Der Ostseeküsten-Radweg in Mecklenburg-Vorpommern bietet Streckenradlern viel Abwechslung. Meist führt er auf Normalnull direkt am Wasser entlang, immer wieder aber auch über Steilufer. Verträumte Dörfer und imposante Herrensitze liegen ebenso am Weg wie lebhafte Badeorte und beeindruckende alte Hansestädte voller Backsteinbauten.

Die weite Boddenlandschaft im östlichen Teil der Strecke bietet unzähligen Vögeln Nahrung und Schutz. Während der Zugzeiten im späten Winter und im Herbst rasten hier unzählige Kraniche.

Der gerade erschienene Band „Ostseeküsten Radweg. Von Travemünde bis Usedom“ beschreibt die rund 650 Kilometer lange Strecke von der ehemaligen deutsch-deutschen bis zur polnischen Grenze detailliert und bietet dazu übersichtliche Karten im Maßstab 1:50.000. Viele Fotos, Hintergrundinfos, Vorschläge für Abstecher und Einkehrtipps machen das Buch zu einem praktischen Reisebegleiter. (ch)

Hans-Dieter Reinke, Daniel Hugenbusch, David Hugenbusch: „Ostseeküsten Radweg. Von Travemünde bis Usedom“, Ellert-&-Richter-Verlag 2018, 288 S., 14,95 Euro

Nach einer weiteren landschaftlich schönen und – weil weitab von Straßen – sehr ruhigen Etappe am Bartelshäger Steinriff und an der Prohner Wiek erreichen wir Stralsund und auf idyllischen Alleen wenig später Greifswald. Beide Altstädte wurden aufwendig restauriert und haben etliche alte Kirchen und andere sehenswerte Gebäude zu bieten. In Greifswald hat uns vor allem die im 15. Jahrhundert errichtete Universität beeindruckt.

Sie bildet einen harten Kon­trast zu den Reaktor-Ruinen des ehemaligen DDR-Atomkraftwerks „Bruno Leuschner“ am Rande des nahen Seebades Lubmin. Vier Blöcke des Kraftwerks wurden ab 1974 schrittweise in Betrieb genommen, vier weitere waren geplant oder schon im Bau, als Wende und Wiedervereinigung den realsozialistischen Atomplänen ein Ende setzten. Seit 1995 befindet sich das AKW im „Rückbau“.

Das letzte Teilstück des Radwegs verläuft über die Insel Usedom. Meist am Meer, teilweise direkt auf der Abbruchkante der Steilküste, allenfalls verstellt mal eine Buche oder Dünenkiefer den direkten Blick auf die bis zu 100 Meter breiten Strände und die Pommersche Bucht. Usedom hat eine teilweise düstere Geschichte: Das Seebad Zinnowitz galt als eine Speerspitze des „Bäder-Antisemitismus“, der ab dem 19. Jahrhundert weit verbreiteten Ausgrenzung und Diffamierung jüdischer Gäste. Das „Zinnowitz-Lied“ endete mit der Schlusszeile „Fern bleibt der Itz von Zinnowitz.“ Bei der Bundestagswahl im September 2017 wählte jeder dritte Einwohner die AfD, was kurzzeitig zu einem heftigen Rückgang der Touristenzahlen führte.

Nach 1933 verwandelten die Kriegsvorbereitungen Usedom in eine Festung. Die Nazis errichteten Beobachtungsstände und Funkstationen entlang der Küste, Marineartillerie ging in den Dünen in Stellung, die Mellenthiner Heide wurde zu einem unterirdischen Munitionsdepot. In Peenemünde ließ Hitler seine „Wunderwaffe“, die V2 bauen.

Als Kaiserbäder oder „Badewanne Berlins“ werden Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin bezeichnet: Um 1900 hatte Wilhelm II. seiner Mätresse, der Konsulin Steude, am Strand von Heringsdorf eine schlossartige Villa bauen lassen. Auch die kaiserliche Familie selbst kurte mehrfach in diesen Badeorten. Viele der damals errichteten Hotels und Villen sind seit der Wiedervereinigung komplett restauriert worden. Die wuchtigen Seebrücken aus Holz, die von der piekfeinen Strandpromenade ins Meer abzweigen, sind die Wahrzeichen der Kaiserbäder. Gleich hinter Ahlbeck verläuft die polnische Grenze, der deutsche Teil des Ostseeküsten-Radweges endet hier.