Martin Krauss
Über Ball und die Welt
: Das Eigentor der Eigentore der Beherrschten

So hatte sich der Herr Putin das gedacht. Exakt am Tag des WM-Eröffnungsspiels verabschiedete die Duma, das russische Parlament, eine Unverschämtheit, die sich „Rentenrefom“ nennt: Frauen sollen künftig nicht mehr mit 55, sondern mit 63 Jahren in Rente gehen, Männer statt mit 60 mit 65. Was sich Herr Putin da gedacht hatte, ist sehr durchschaubar: Opium fürs Volk würden einige sagen, und wenn das aus seinem WM-Rausch aufwacht, sind Fakten geschaffen.

Fußball als Ablenkungsmanöver der Herrschenden, diese Theorie ist weder neu noch originell. „Die Tore auf dem Fußballfeld sind die Eigentore der Beherrschten“, schrieb der linke Soziologe Gerhard Vinnai 1970, und vor gar nicht allzu langer Zeit bestätigte er seinen alten Befund: „Viele Intellektuelle, die sonst noch halbwegs bei Verstand sind, verspüren heute den Drang, sich als Fußballfans zu outen, anstatt, wie es ihre Aufgabe wäre, kritisch über die soziale Rolle des Fußballsports nachzudenken.“

Ist es denn die soziale Rolle des Fußballs, Schweinereien zu verdecken? Sollen, indem Fußballspiele abgehalten werden, die Massen verdummt werden? Das impliziert die Rede von den „Eigentoren der Beherrschten“ ja.

Doch zweierlei fällt auf: Zum einen steht das Ergebnis des Nachdenkens, zu dem die Intellektuellen aufgefordert werden, meistens schon vorher fest: nämlich Ablenkungsfunktion. Zum anderen hat meines Wissens niemand jemals ernsthaft die Forderung erhoben, klassenbewusste Arbeiter und kritische Intellektuelle sollten sich gefälligst nicht dem Theater, dem Kino, der Literatur oder der Musik zuwenden, weil sie dies bloß von der Revolution abhielte. Oder zumindest davon, sich gegen Zumutungen wie eine „Rentenreform“ zu wehren.

Ach, heißt es dann: Kultur erweitere ja den Horizont, sie könne fortschrittlich sein, und, ganz allgemein, Bildung sei immer wichtig. Ach ja? Warum soll Fußball, der die Kraft des Kollektivs lehrt, nicht fortschrittlich sein? Warum ist jemand, der mit einem Ball eine ganze Reihe technisch begabter Gegenspieler umläuft, sozial weniger angesehen als jemand, der schwierigste Klavierkonzerte zu spielen vermag? Und wie kommt man auf die Idee, dass jemand, der eine komplizierte Spielsituation, ähnlich diffizil wie die Anordnung bei einem Ballett, in weniger als einer Sekunde erkennt und mit einem raumöffnenden Pass verändert, irgendwie dumm sein könnte?

Wie ignorant das ist, fällt auf, wenn sich das emanzipatorische Potenzial des Sports einmal unübersehbar zeigt. Wenn etwa, um ein beliebiges Beispiel zu wählen (ich weiß selbst nicht, warum ich gerade darauf komme) ein Fußballspieler wegen Rassismus aus der Nationalmannschaft zurücktritt und damit eine große gesellschaftliche Debatte anstößt, dann wird das von den ach so aufmerksamen Kritikern der sozialen Rolle des Fußballsports nicht gesehen. Da wird abgewimmelt und relativiert: Der habe doch zu viel Geld, um wirklich rassistisch beschimpft zu werden; der sei doch viel zu dumm, um so etwas zu begreifen; das hätten ihm doch nur seine Berater gesagt; der habe doch selbst politische Fehler gemacht, weshalb er sich jetzt nicht beschweren dürfe.

Das wäre doch mal eine interessante Aufgabe für kritische Intellektuelle: herauszufinden, warum das emanzipatorische Potenzial des Sports selbst dann nicht erkannt wird, wenn man es partout nicht über­sehen kann.