Vor dem Sprung

Jossie Graumann ist Deutschlands zweitbeste Hochspringerin, eines der größten Berliner Talente, mit einer unorthodoxen Karriere. Ob sie es – trotz Bänderriss – zur Heim-EM schafft, war lange ungewiss

Hochspringerin Jossie Graumann, LG Nord Berlin, beim Training im Sportforum Berlin Foto: Sebastian Wells

Von Alina Schwermer

Eines der sehr wenigen Videos, die Jossie Graumann beim Wettkampf zeigen, ist schön, obwohl nur ein paar Sekunden lang. Graumann, damals 17 Jahre alt, dreht ihren Körper bei den deutschen Jugendmeisterschaften über eine Latte auf der Höhe von 1,80 m. Nach dem Sprung schlägt sie die Hände an den Kopf, vor den Mund, wieder zurück an den Kopf; rennt in Richtung Zaun, umarmt ihre Familie und zappelt wieder weg. Als sie die Zahl auf der Anzeigetafel sieht, schlägt sie wieder die Hände vor den Mund. Es ist noch kein Jubel für ein Publikum oder eine Kamera: Es ist die unaufgesetzte, pure Freude darüber, eine Latte überquert zu haben.

Sieben Jahre und zwölf Höhenzentimeter später sitzt Jossie Graumann im Idyll des Stadions Rehberge, in einem Biotop leuchtend grüner Bäume und flüchtender Kaninchen. Die Atmosphäre sagt Picknick. Jossie Graumann sagt: „Ah, ein kleiner Frosch!“ Kurze, glaubhafte Begeisterung über den Fund des Gärtners, Natur fand sie immer schon gut. Im Waldkindergarten war sie auch. Heute ist Graumann die zweitbeste Hochspringerin Deutschlands, was sich im Hochsprung sehr präzise und ohne Diskussionen auflisten lässt. Sie springt bis zu 1,92 Meter hoch. Noch deutlich schwächer als die deutsche Nummer eins, Marie-Laurence Jungfleisch, die die Latte bei bis zu zwei Metern überquert, aber deutlich stärker als der Rest, der irgendwo bei 1,80er-Werten pendelt. 1,90 Meter gelten als Eingang zur Weltklasse.

„Klar, manchmal frage ich mich schon, ob meine Karriere eher Glück oder Können war.“ Es gibt Athleten, die schon im Alter von fünf Jahren von Olympia träumen, ihr Leben lang darauf hin arbeiten, von fordernden Eltern getrieben oder aus freien Träumen hoch gekämpft. Oft sind die Wege in der Leichtathletik krumm, unwahrscheinlich und brüchig. Jossie Graumann träumte als Kind nie von einer Sportkarriere. Die Athletin, die auf Haiti geboren wurde und nach einer Adoption im beschaulichen Konstanz aufwuchs, zwischen Straßenspiel mit Nachbarskindern und Waldwanderungen, spricht von sportlichem Erfolg eher wie von einer schönen Überraschung am Wegesrand. Ein bisschen wie: Ah, ein Frosch.

„Es kam schleichend“, sagt sie, „ich bin da so mitgewachsen.“ Ein Kind, das immer schon für den Sport brennt, aber in der eigenen Erinnerung keine großen Mühen auf eine Karriere verwendet. Offenbar auch, weil ihr vieles leicht fällt. Jossie Graumann ist ein Hansdampf in allen Gassen: Als Kind betrieb sie nach eigenen Angaben in wechselnder Intensität Reiten, Schwimmen, Skifahren, Snowboard, Basketball, Ballett, Tennis, Klettern und Wildwasser-Kajak. Nicht zum Probieren, sondern sehr ernsthaft, betont sie, bis die Woche nicht mehr genug Platz für alles bot.

Die Athletin Jossie Graumann wurde 1994 in Port-au-Prince auf Haiti geboren. Im Alter von drei Jahren wurde sie adoptiert und wuchs in Konstanz auf. Sie betrieb viele Sportarten, am erfolgreichsten Leichtathletik und Basketball, und spezialisierte sich spät auf Hochsprung. 2012 zog sie für die Karriere nach Berlin. Graumann studiert Grundschullehramt. Sie trainiert bei der LG Nord.

Die Erfolge Die persönliche Bestleistung im Hochsprung liegt bei 1,92 Metern. Graumann holte bei den Deutschen Meisterschaften 2017 die Silbermedaille sowohl in der Halle als auch draußen. 2016 erreichte sie bei den Deutschen Meisterschaften Bronze.

Die Leichtathletik-EM findet vom 7. bis zum 12. August in Berlin statt. 1.500 Athleten aus über 50 Nationen messen sich im Olympiastadion in verschiedensten Disziplinen wie Hammerwurf, Hochsprung oder Sprint. Insgesamt 47 Disziplinen sind vertreten. Tickets gibt es ab 15 Euro für eine Qualifikations-Session und ab 25 Euro für eine Final-Session. Mehr Infos unter www.berlin2018.info. (asc)

Das klingt nach dem Albtraum einer voll getakteten Woche, ein Ding ihrer Generation, aber Graumann widerspricht: „Ich kann mich gar nicht erinnern, dass ich ein Kind gewesen wäre, das immer so rumhetzen musste. Es war ganz locker im Alltag mit drin.“ Sie habe Sport nie als Arbeit oder als Druck empfunden. Und übrigens nebenbei auch Klarinette und Gitarre gelernt. „Es war irgendwie alles nebenbei.“ Die Leichtigkeit hilft ihr zum Erfolg. Jossie Graumann hätte auch Karriere im Basketball machen können. Das Förderangebot eines Vereins nimmt sie nicht an, da habe sie nicht so viel Lust zu gehabt.

Die Hochspringerin erlebt wohl in mancherlei Hinsicht eine unkonventionelle Kindheit: Fast jedes Wochenende gehen die Eltern mit den Kindern vier oder fünf Stunden wandern. Was man sehr nervig finden könnte, ihr aber gefällt. Nach dem Waldkindergarten kommt die Waldorfschule. Jossie Graumann kümmert sich in einem Praktikum um betreuungsbedürftige Menschen, macht einen Austausch nach Hawaii, wo sie acht Monate verbringt. Sie fährt mit der Klasse nach Russland und lebt in Jaroslawl bei einer Familie, nach vierstündiger Fahrt ins Nirgendwo. Das alles prägt sie. „Ich war immer schon sehr selbstständig.“ Dass sie 2012 schließlich mit Leistungssport ernst macht und nach Berlin zieht, empfindet sie im Vergleich zu Jaroslawl nicht als Umstellung.

Natürlich ist die Heim-EM beim Umzug nach Berlin als Ziel mitgedacht. Ursprünglich will Jossie Graumann ins Finale kommen. Und, sagt sie, eine neue Bestleistung von 1,94 Meter erreichen. Sie hat sich eine Markierung von 1,94 Metern an die Tür gemalt, um täglich zu sehen, wie hoch das ist. Dann aber kommt ein Bänderriss, mit dessen Folgen sie noch beim Treffen im Frühjahr kämpft. „Ich muss mir Zeit geben und Selbstvertrauen in meinen Fuß finden.“ Für die EM ist lange ungewiss, ob sie dabei sein kann. Ihre Eltern werden aber auf jeden Fall kommen. Eine Seltenheit.

„Ich bin so stolz und auch froh, dass meine Eltern nicht so Klammereltern waren, die bei jedem Wettkampf am Platz standen und rumgeschrien haben“, sagt Graumann. Die Wandereltern sind zwar sportbegeistert, sehen das mit der Karriere aber offenbar entspannt. Ein oder zwei Mal im Jahr kämen sie zu Wettkämpfen. „Die lassen mich so machen“, beschreibt es Graumann. Sie genießt die Freiheit. „Das ist schön, dass man von den Eltern keinen Druck kriegt. Bei manchen Athleten denke ich: Die wären noch ein bisschen besser, wenn die Eltern nicht so im Nacken sitzen würden.“

Sie hat sich eine Markierung von 1,94 Metern an die Tür gemalt

Am Ende, sagt die 24-Jährige heute, hätte sie auch beim Basketball landen können oder beim Reiten. Aber Hochsprung, das habe sie immer schon fasziniert. Sie ist schnell erfolgreich. Ach, sagt ihre Trainerin da, richtiger Hochsprung fängt erst an, wenn man in der Lage ist, die eigene Körpergröße zu überspringen.

Die beiden schließen eine Wette ab: Wenn du beim nächsten Wettkampf über deine Körpergröße springst, zahle ich dir „All you can eat“-Schnitzel. „Ich bin direkt im ersten Wettkampf so hoch gesprungen“, erzählt die Athletin. Danach habe die Trainerin keine Wetten mehr mit ihr abgeschlossen. Aber Graumann aß ohnehin nur ein Schnitzel. So viel Sportdisziplin hat sie dann doch.

Am Mittwochnachmittag hat nun der Deutsche Leichtatthletikverband seine Nachnominierungen bekanntgegeben. Statt, wie befürchtet nur 2, sind es jetzt sogar 9 Berliner AthletInnen, die bei der Heim-EM dabei sind. Für Jossie Graumann hat es leider nicht gereicht.