Russland zeigt die Weiße Karte

Mit fast nur russischstämmigen Spielern hat sich die Sbornaja in die nächste Runde gespielt. Schon bei der WM 1966 hatte die sowjetische Auswahl so das Halbfinale erreicht

Geschlossene Gesellschaft: In die Auswahl kommt kein Zuwanderer Foto: S. Wells

Von Barbara Oertel

Auch wenn für Russlands Nationalmannschaft nach dem Viertelfinale gegen Kroatien an diesem Samstag bei der Fußball-WM Schluss sein sollte: Die Sbornaja von Stanislaw Tschertschessow hat ihr Plansoll schon jetzt übererfüllt. Denn kaum jemand hat damit gerechnet, dass das Team die Vorrunde ­übersteht.

Wie es so weit kommen konnte, darüber wird dieser Tage viel spekuliert. Eine These ist die weitgehende Homogenität des Kaders – im ethnischen Sinne. Da gibt es den brasilianischstämmigen Verteidiger Mário Fernandes, der derzeit bei ZSKA Moskau unter Vertrag ist. Dann wird es schon überschaubar. Mit Daler Kuzjajew (Zenit St. Petersburg) hat immerhin ein Tatar den Sprung in die Auswahl geschafft. Das Gleiche gilt für Alan Dsagojew (ZSKA Moskau) aus Nordossetien. Die kleine Republik im Nordkaukasus wurde einer breiteren Öffentlichkeit im September 2004 bekannt, als ein islamistisches Terrorkommando in einer Schule in Beslan mehr als 1.100 Geiseln nahm. 331 von ihnen waren nach der Erstürmung durch russische Einsatzkräfte tot.

Man setzt also auf die „Weiße Karte“. Das war übrigens auch bei der WM 1966 schon so, als Schland (damals noch Deutschland-West bzw. BRD) den Siegeszug der sowje­tischen Mannschaft mit den vier Lettern CCCP (UdSSR) auf ihren Trikots erst im Halbfinale stoppte. Neben József Szabó (ungarisch-ukrainischer Provenienz) waren nur noch der Tatar Galimsjan Chussainow sowie der Armenier Waleri Porkujan mit von der Partie.

Bei der EM 1988 schaffte es die CCCP-Auswahl sogar bis ins Finale, wo sie mit 0:2 den Niederlanden unterlag. Diesmal war die Mannschaft ein Mikroabbild des Internationalismus, den die Sowjetmacht seit der Gründung 1922 als Teil ihrer Staatsdoktrin beschworen hatte. Mit Sergei Dmitrijew von Zenit Leningrad kickte gerade mal ein Russe im Team. Mit Abstand am stärksten waren die Ukrainer vertreten, zu denen sich aber auch Spieler aus Litauen, Georgien und Weißrussland gesellten – nebst zwei Tataren. Elf Profis spielten damals bei Dynamo Kiew – offensichtlich eine Fundgrube für fußballerischen Nachwuchs.

Seither haben sich die Zeiten radikal geändert. 1991 verabschiedete sich die Sowjetunion von der weltpolitischen Bühne. Die Russische Föderation, immer noch eines der größten Länder der Welt, ist beileibe nicht arm an Vielfalt. Doch das wird im Sport – genauer gesagt in der Fußballnationalmannschaft – nicht sichtbar. Es überrascht schon, dass unter Millionen von Arbeitsmigranten aus Zentralasien kein einziges Fußballtalent zu finden sein sollte. Doch die rackern sich in schlecht bezahlten Jobs ab, werden gejagt und manchmal auch deportiert.

Einer der Hauptgründe für die „weiße“ Mannschaft ist jedoch der Rassismus unter den Fans, was kein Alleinstellungsmerkmal Russlands ist, jedoch Teil der offiziellen Rhetorik unter Präsident Wladimir Putin. So war es die Politik von Zenit St. Petersburg, keine schwarzen Spieler unter Vertrag zu nehmen. Eine Zeit lang war auf Transparenten des Klubs im Stadion zu lesen: „Schwarz ist nicht eine unserer Farben!“ Im Juni verhängte die Uefa eine Strafe über Zenit, weil die Fans bei einem Europaliga-Spiel gegen Leipzig „Tötet die Schwarzen!“ gesungen hatten.

Der Fußballer Peter Odemwingie, in Russland geborener und aufgewachsener Sohn nigerianischer Einwanderer, lehnte es vor ein paar Jahren ab, für den russischen Kader zu spielen. Er wird gewusst haben, warum.