Filme wie Fotos

Ketchup-Flaschen, Annie Leibovitz und Straßenzüge: Für den vielreisenden Regisseur Wim Wenders wird seit den 70er Jahren alles zum Motiv – zu sehen in der Ausstellung „Sofort Bilder“

„Reluctant Unknown“, 1971 Foto: Wim Wenders Foundation

Von Eva Müller-Foell

Sommer 1973. In einem amerikanischen Hotel macht es plötzlich klick, es folgt ein surrendes Ge­räusch, dann schiebt die Kamera ein Bild heraus. Kurz danach zeichnet sich aus dem Dunkel etwas ab: ein Toastbrot. Hell wie eine Erleuchtung, belegt mit Schinken und Käse. Darunter schreibt der damals 28-jährige Wim Wenders: „1. Foto von Polaroid“, und verstaut es anschließend in einem hölzernen Zigarren­kästchen, nicht ahnend, dass diese fototechnische Innovation einhergeht mit seinem filmischen Durch­bruch.

Zu dieser Zeit gab es ihn noch nicht, den preisgekrönten Regisseur Wim Wenders. Da gab es nur den jungen talentierten Mann, der die eigene künstlerische Sprache noch nicht gefunden hatte. Der kurz davor war, seine Filmkarriere hinzuschmeißen, bevor er sie begonnen hatte. Drei Filme hatte Wenders bislang gedreht, jeder mit einem Lehrmeister im Hinterkopf. Nur Verschnitte, keine Unikate. Konnte er auch etwas erzählen ohne Vorbild, ohne Modell, ausschließlich aus ihm heraus? Mit „Alice in den Städten“, seinem ersten Roadmovie, setzte er alles auf eine Karte. Das oder nichts.

Wer sucht, der bewegt sich – und hält nicht an, bis er etwas gefunden hat. Wie ein Roadmovie, das von seiner Bewegung lebt. Dieses Genre war in der Lage, ihm eine Struktur zu ­geben, in der ganz spontane und doku­men­tarische Bilder möglich waren. Zwar schrieb Wim Wenders ein Drehbuch, ließ es aber nach dem ersten Drehtag links liegen. „Filme heute wirken mehr ausgedacht als gelebt. Heute muss man alles vorproduzieren, bevor man produzieren kann“, erklärt Wenders bei einem Künstlergespräch im Rahmen der Ausstellung im C/O Berlin. Über ihm, auf einer großen Lein­wand, war ein Polaroid zu sehen, das seinen ersten Blick auf das New Yorker Stadtleben festhält.

Auch die Schauspieler sollten keine Rolle spielen, sondern die Rolle sein. Mit Rüdiger Vogler fand er je­manden, der seinen Text nicht auswendig lernte und der sich vom damals in Filmen üblichen Männerbild abhob. Müssen es immer diese Kerle sein, die im Kino vorkommen, oder sind Männer nicht auch empfindsame Wesen? Wenders er­schuf mit Vogler in der Rolle des erfolglosen Journalisten Philip Winter den ersten „Softie“ im Film, wie Wenders selbst sagt.

Das, was seinen ersten Roadmovie „Alice in den Städten“ so besonders macht, ist die Unmittelbarkeit. Erzeugt von der filmischen Spontanität und den ständigen Schnapp­­schüssen mit der Sofortbildkamera. Eigent­­lich hatte Wim Wenders den Film mit einem älteren Polaroid-Modell drehen wollen, das noch nicht in der Lage war, sofort Bilder auszuspucken. Doch einen Tag vor Drehbeginn erhielt er einen Prototyp der neuen Sofortbild­kamera und setzte sie direkt in die Handlung ein. So zieht der Journa­list Philip Winter, Wenders’ Alter Ego, mit der „Polaroid SX70“ des­illusioniert durch die USA, auf der Suche nach der Story und sich selbst. Anstatt eine Geschichte über die ameri­kanische Landschaft zu schrei­ben, schießt der Protagonist Sofortbilder, als Be­weis für seine taub ge­wordene Existenz.

Mit dem Drehbeginn zu „Alice in den Städten“ wurde diese Kamera für die nächsten zehn Jahre Wenders’ ständiger Be­gleiter. Sobald ihn ein Ort einnahm, schoss er ein Foto. So entstanden über 10.000 Polaroids von Film­sets, von Fremden und Freun­den, von großen Städten und vereinsamten Landschaften, von Auto­bahnen und Wüsten oder von Hotels, in denen er auf seinen Reisen abstieg. Wie das karge, kerkerähnliche Hotelzimmer im „Village Plaza Hotel“. „Da wohnten nur ­Junkies. Da konnte man nichts liegen lassen, nur die Unter­hosen. Selbst meine Schreibmaschine habe ich immer mitgenommen. Trotzdem war das die Freiheit und nicht der Knast“, sagt Wenders beim Künstler­gespräch.

Oder das Foto der Campbell’s-Suppendosen. „Damals dachte ich, Warhol hätte sich die nur ausge­dacht. Ich hatte die Suppen nur als Kunst gekannt. Und dann stand ich plötzlich in einem Supermarkt vor diesen Dosen. Ich war total baff.“

Wim Wenders, der sich selbst zuerst als Reisender, dann als Regisseur und Fotograf sieht, führte sozusagen Tagebuch mit der Kamera. So entstanden seine Filme, die stets eine melancholische Romantik in sich tragen. Die Polaroids, die zusammen mit den dazugehörigen Geschichten aktuell in der Ausstellung „Sofort Bilder“ im C/O Berlin zu sehen sind, zeigen, wie Wenders seine eigene Erzählwelt gefunden hat.

Und es sind auch Zeitkapseln der späten 1960er, 70er und 80er Jahre. Ergänzend zur Ausstellung hat Wim Wenders sechs Filme für die Reihe „Sofort Filme“ im Kino „Delphi Lux“ ausgewählt, die in engem Zusammenhang mit der Ausstellung stehen, etwa „Der amerikanische Freund“. 1976 machte Wenders ein Polaroid von Dennis Hopper während der Dreh­arbeiten. Um die Rolle lebhafter zu ge­stalten, hatte er die Idee, Hopper mit der Sofort­bildkamera hantieren zu lassen.

So entstand die prägnanteste Szene des Films: Der Protagonist, der in kriminelle Machenschaften verwickelt ist, liegt auf einem Billardtisch und macht als eine Art Läuterungsprozess unentwegt Fotos von sich mit der Polaroid. Die Bilder fallen auf sein Gesicht, seine Reue wird sichtbar. Noch schneller als das Toastbrot damals, im Sommer 1973.

„Sofort Bilder“: C/O Berlin, 7. 7. –23. 9. / Filmreihe: Delphi Lux: 25. 7., „Im Lauf der Zeit“, 20 Uhr