Benjamin Moldenhauer
Popmusik und Eigensinn
: Formvollendet zwischen den Zeiten

Diese Lieder rumpeln, stolpern hin und wieder und sind dabei ausgesprochen schön. Gern ein bisschen zu schnell oder zu langsam, aber das soll so sein und wirkt nicht dilettantisch im engeren Sinne, sondern konzeptuell stimmig. Auf dem dritten Album der Bremer Band Spröde Lippen sind zehn kurze Stücke versammelt, die eine verhangen heitere Atmosphäre verbreiten. Dunkel auch, aber nicht so gothic-artig dunkel, sondern versoffen mondän und der Realität immer um ein paar Schritte entrückt.

Das Album heißt „Schleifen“, vielleicht weil es in einigen der Songs auch darum geht, wie man aus der ewigen Wiederholung der Gegenwart raus- und zu etwas anderem hinkommt. Die Texte sind der Sache angemessen kryptisch und korrespondieren auch in diesem Sinne mit der Musik. „Es liegt in der Sache eines Zustands / unter Mauern, was du durchsiehst / und klebt weiter hinten / an dir selber bis du durchdrehst“.

Ich kenne momentan keine deutschsprachige Band, die derart selbstverständlich wie zwischen den Welten klingt. Was in dieser Musik an Pophistorie drinsteckt, ist weniger in Form von direkten Zitaten enthalten, sondern als loser atmosphärischer Verweis: die düsteren Ecke des New Wave der Siebziger, versoffenes Chanson, Punk als Haltung, die zuerst Offenheit meint und weniger Protest. Man kann einfach ausdrücken, was man ausdrücken will und sich zumindest im Proberaum und im Studio eine Welt bauen, die interessanter und weniger langweilig ist als die Welt jenseits von Proberaum und Studio.

Pop heißt, irgendeine Form von Jetzt und Dringlichkeit zu produzieren, sonst wird’s nostalgisch und dann im Zweifelsfall halt Rock. „Schleifen“ klingt vollkommen gegenwärtig. Mindestens ein direktes Zitat gibt es dann aber doch: „Jetzt, jetzt / lebe ich / jetzt, jetzt / trinke ich / jetzt, jetzt / stinke ich / jetzt, jetzt / rauche ich / jetzt, jetzt / brauch ich dich“. Die Zeilen sind aus dem Sandow-Cover „Born in GDR“, das Original ist von 1989. „Vor mir“ wiederum beschwört den Wunsch nach etwas, das es noch nicht gibt. „Schenk mir eine Reise / die ich machen will / nicht flüchte weil ich weg muss / sondern aus Genuss“. Gerade in einer Stadt wie Bremen, in der ein Großteil der Musikszene sich überzeugt der Eins-zu-eins-Wiederaufführung des Gitarrenrocks von etwa 1996 widmet, ist so eine formvollendete Zeitenmischung wirklich überraschend.

Spröde Lippen: Schleifen ­(Latenz, 2018)