Musik über Liebe und Rettungsboote

Hochgradig eigenständig, dennoch angeschlossen an die Tradition von R&B-Sängerinnen wie Erykah Badu oder Amy Winehouse: „Lost & Found“, das Debütalbum von Jorja Smith

Alle Wunderkind-­Zuschreibungen hakt sie locker ab: Jorja Smith Foto: Rahid Babiker

Von Steffen Greiner

Das spektakulärste R&B-­Debütalbum 2016 war eindeutig Kelelas „Take Me Apart“, eine hochgradig erreg­te Mixtur aus Trap, avanciertem elektronischen Pop und R&B, ausgestattet mit großer politischer Konfliktbereitschaft. Kelela Mizanekristos war bei Veröffentlichung 34-jährig: In Interviews plädierte sie für das Ende des Wunderkind-Kults, für die Aufwertung von Arbeit und Erfahrung im Pop. Das Pop-Jahr 2018 zuckt da nur mit den Schultern und schüttelt nun das nächste Ass aus dem Ärmel: Das am stärksten erwartete R&B-Album stammt von Jorja Smith. Kurz nach Veröffentlichung ihres besagten Werks „Lost & Found“ feierte sie ihren 21. Geburtstag und hakt alle Wunderkind-Zuschreibungen locker ab.

Der Vater der Britin, selbst Neo-Soul-Musiker, förderte sie früh, Jorja Smith erlernte zunächst Klavier, dann auch die Oboe, ließ sich in klassischem Gesang ausbilden. Zu Schulzeiten spielte sie beim Kellnern ihren Kunden Demoversionen von Eigenkompositionen auf dem Handy vor. Erste Songs landeten auf Soundcloud. Darunter „Blue Lights“, ein kleiner Hit von 2016.

Im vergangenen Jahr folgten dann schon ein Gastauftritt beim kanadischen Rapstar Drake und eine gemeinsame Single mit Kendrick Lamar, die auf dem Soundtrack zum Superhelden-Epos „Black Panther“ enthalten ist. Die junge Frau tourte zusammen mit Bruno Mars, im Januar erhielt sie den Brit Critics’ Choice Award, einen der wichtigsten Musikpreise im Vereinten Königreich.

Doch sosehr sich Kelela und Jorja Smith in ihren Biografien voneinander unterscheiden, so nahe sind sie sich, wenn es darum geht, wie selbstverständlich Politisches mittlerweile im Pop gedacht werden kann. Hier Kelela, die bewusst Musik für schwarze, queere Frauen macht. Dort Jorja Smith, die sich schon als Schülerin mit Postkolonialismus und Rassismus in Großbritannien beschäftigte. „Blue Lights“ war ein Nebenprodukt dessen, ein Track, der die Praxis von Racial Profiling der britischen Polizei auf den Punkt bringt und Dizzee Rascals Stück „Sirens“ von 2007 zitiert. Smith überführt die Geschichte des Grime-Sound in ein samtweiches, umso bittereres Soul­statement: „Don’t run when you hear the sirens coming / What have you done?“

Bittere Wirkung

Auch der Track „Lifeboat“ entfaltet gerade durch seinen zaghaft sommerlichen Reggae-Anstrich eine bittere Wirkung. Rettungsboote auf dem Mittelmeer mit hunderten geflüchteten Menschen an Bord geraten in Seenot und finden keine sicheren Häfen am Mittelmeer – und Smith fragt in einem Gestus, der an die frühe Lily Allen erinnert: „Why do we all fall down, if there’s a reason we can stay afloat – why do we watch them drown, we’re too selfish in the lifeboats.“

Dabei ist „Lifeboats“ eigentlich eher auf die gesellschaftlichen Ungleichheiten in Großbritannien gemünzt – ein Lied, das mit den musikalischen Mitteln von Weichspüler Jack Johnson den Protestsänger Billy Bragg gibt.

Gekonnt zelebriert ihr Album schwarze Stile von Gospel bis HipHop

Selbstredend ist das alles wesentlich zugänglicher und weniger böse, als es etwa Ebony Bones auf ihrer aktuellen Single wagt, eine britische Avant-Pop-Künstlerin of colour, die eine rassistische Parlamentsrede aus den 1960ern zitiert und zu schneidendem New Wave „Ain’t no black in the Union Jack, send them back, send them back“ skandiert, dass einem die Haare zu Berge stehen. Und selbstredend entsagt sich vieles auf „Lost & Found“ auch den Agitprop-Botschaften, sondern handelt vom intensiven, immer um Ewigkeit ringenden Liebes- und Trennungsuniversum, in das nur Teenager eintreten dürfen. Die Erwachsenen brauchen dafür Pop. Jorja Smith bringt den neuen, politisierten R&B auch zu jenen, die sich in den experimentellen Ästhetiken und radikalen Aussagen seiner wichtigsten Protagonistinnen zuletzt nicht wiederfinden konnten: Sie macht den Future-R&B für die Abgehängten der Black Music.

Und sie spielt eine recht perfekte Fassung davon. Über weite Strecken zelebriert ihr Album unfassbar gekonnt schwarze Musikstile von Jazz über Gospel bis HipHop. Jorja Smiths Stimme ist von einer Weichheit, die nie zu banal klingt. Sie ist hochgradig eigenständig, dennoch angeschlossen an eine lange Tradition von R&B-Sängerinnen, in der Smith nun steht: Erykah Badu, Lauryn Hill, aber auch Adele und Amy Winehouse gehören dazu. Statt auf gewagtes Sounddesign und elektronische Akzente setzt Smith auf routiniertes Songwriting-Handwerk. Das macht ihr Debütalbum zu einem angenehm durchhörbaren Sommersoundtrack. Das ist grundsympathisch, gerät manchmal aber auch ein bisschen zu erwartbar.

Vielleicht darf man Jorja Smith, die junge Frau aus der englischen Industriestadt Walsall, darum nicht an dem Hype messen, den ihre ersten Auftritte auslösten. Ihr Debüt ist wesentlich unspektakulärer, als es zuletzt die Alben von Janelle Monáe und Beyonce & Jay-Z waren und wie es das kommende der R&B-Crew The Internet vermutlich auch sein wird. Vielleicht ist „Lost &Found“ ein erster Gehversuch eines Teenagers auf dem spiegelglatten Gelände des Mainstream – wo sie sich schon mit traumwandlerischer Sicherheit bewegt.

Jorja Smith: „Lost & Found“ (FAMM/The Orchard/Sony)