Mit der kreativen Kraft der Stimme

Worte zu machen ist keine Selbstverständlichkeit: Die israelische Rapperin Victoria Hanna tritt Samstag im Jüdischen Museum auf

Still aus Victoria Hannas Video „Aleph Bet“, das 2015 ein YouTube-Hit wurde Foto: Greedy For Best Music

Von Philipp Weichenrieder

Nur zögernd und leise entweicht dem Mund ein Geräusch. Man sieht Victoria Hanna beim Kampf um die eigenen Worte zu, der langsam zu gestotterten, vibrierenden Lauten, dann zu Worten und Wortmelodien führt, aber immer wieder ins Stocken gerät. In der Videoaufnahme eines TEDx-Vortrags, den Victoria Hanna 2015 in London gehalten hat, zeigt die Sängerin aus Israel bei ihrer Performance, dass Sprache gleichzeitig Macht und Ohnmacht sein kann. Schöpferisch formt sie Worte, macht aber auch deutlich, dass das nicht selbstverständlich ist.

Indem sie hebräische und englische Buchstaben, Worte und Wortfolgen unterschiedlich betont, stellt sie die physische Formulierung von Sprache und ihre klanglichen Aspekte dar und begleitet dies mimisch und gestisch. Das tut sie nicht nur bei Vorträgen, sondern seit mehr als zehn Jahren auch als Musikerin. Sie ist vor dem Dalai Lama aufgetreten, hat mit Bobby McFerrin Töne hin- und hergeworfen. Auch wirkte sie unter anderem 2004 an dem bisher einzigen Album von JUF als Gastsängerin mit, einem Projekt des Schlagzeugers Tamir Muskat und der Punk-Cabaret-Band Gogol Bordello, das sie in Anlehnung an die Electronic-Body-Music-Pioniere DAF „Jüdisch Ukranische Freundschaft“ nannten.

Obwohl Victoria Hanna seit Langem den Klang von Worten und die eigene Stimme auf Bühnen weltweit erforscht, rückte sie erst vor zwei Jahren in das Licht einer breiteren Öffentlichkeit. Das Video zu „Aleph Bet – Hoshaana“ wurde 2015 zu einem YouTube-Hit in Israel und bis heute über 1,2 Millionen Mal aufgerufen. In dem Stück rezitiert sie das hebräische Alphabet und ein Gebet, das am Ende von Sukkot, dem siebentägigen Laubhüttenfest, gesprochen wird. Zu minimalistischen Beats, die gebrochen und bauchig antreiben, formuliert sie die Worte fast wie Rap, gleitet zu Gesang über, begleitet von den Klängen einer Oud.

Das Sprachmaterial, auf das sie in ihren Stücken und Auftritten zurückgreift, stammt aus religiösen oder philosophischen, hebräischen und aramäischen Schriften. Passagen aus dem Tanach, beispielsweise Psalmen, oder kabbalistische Fragmente tauchen immer wieder auf. Victoria Hanna verknüpft inhaltliche Mystik und Spiritualität mit der kreativen Kraft ihrer Stimme.

In ihrer Performance zeigt sie, dass Sprache gleichzeitig Macht und Ohnmacht sein kann

Aufgewachsen ist sie in Jerusalem in einem orthodoxen Umfeld. Ihr Vater war Rabbi, zu Hause stapelten sich religiöse Bücher. Die Tochter war umgeben von heiligen Texten, lernte und rezitierte sie. Sprechen war eine Hürde, weil sie stark stotterte. Später studierte sie Schauspiel, lebte einige Zeit in New York. Diese Erfahrungen fließen in ihre Arbeit ein, wenn sie heute anhand von Texten aus ihrer Kindheit Buchstaben und Worte artikuliert, mit der Entstehung ihrer Klänge experimentiert. Obwohl sie inzwischen von orthodoxer Religiosität distanziert ist, spürt sie die Prägungen immer wieder. So finde sie es manchmal immer noch merkwürdig, vor Männern aufzutreten, erzählte sie 2015 der israelischen Onlinezeitung The Times Of Israel.

Im Video zu „Aleph Bet – Ho­shaana“ taucht diese Sozialisation ebenfalls auf – allerdings mit einem anderen Vorzeichen. Die Judaistin Hannah Pressman schreibt in einem Beitrag auf der Webseite der University of Washington, dass die Bilder subversive feministische Symbolik haben. In einer Szene spielt das Video auf eine Tradition an, mit der der Beginn des Thora-Studiums von Jungen gefeiert wird. Der Junge isst dabei Honig von einer Seite der Schrift. In dem Video von Victoria Hanna sitzen im Klassenzimmer ausschließlich Mädchen, die den Honig und die religiöse Lehre erhalten, was in orthodoxen Kreisen eigentlich Männern vorbehalten ist.

Im vergangenen Jahr veröffentlichte Victoria Hanna, die heute wieder in Jerusalem lebt, ihr Debütalbum in Eigenregie, Ende Juli wird es noch einmal auf dem Label Greedy for Best Music aus Frankfurt erscheinen. Zu Beats, die von HipHop inspiriert sind, Bläser- oder Akkordeon-Melodien und elektronischen Bässen spricht und singt sie auf der ersten Hälfte des Albums, im zweiten Teil wirken die Stücke wie Balladen, bei denen die Percussion verschwunden ist und Victoria Hanna zu ruhig tragenden, teilweise melancholischen Klängen von Piano oder Streichern singt. Die beiden gegensätzlichen Stimmungen charakterisieren für die Sängerin die beiden Teile ihres Pseudonyms. Victoria und Hanna sind die Vornamen ihrer Großmütter, die beide als Mädchen gegen ihren Willen verheiratet wurden. Victoria rebellierte dagegen, Hanna gab nach. Beide bekommen bei der Künstlerin Stimmen und Worte aus ihrer Kindheit, denen sie im Jetzt mit eigenen Klängen eine besondere Kraft gibt.

Victoria Hanna: „Victoria Hanna“ (Greedy for Best Music); live am 30. Juni, 20 Uhr, Jüdisches Museum Berlin