talk of the town
: Furiose Brillanz

Der am Montag verstorbene Tom Wolfe gab dem „New Journalism“ einen Namen. Seine für den Tag geschriebenen Texte wird man noch lange lesen – seine Romane eher nicht

Tom Wolfe bei der Arbeit, New York, 1965 Foto: Jack Robinson/ getty images

Von Arno Frank

Zwischen 2 oder 3 Uhr in der Nacht, irgendwann um diese Zeit, in einem Krankenhaus in New York, am 15. Mai 2018, seinem Todestag, um genau zu sein, da erwachte Thomas Kennerly Wolfe Jr. in der Dunkelheit in einem Zustand wilden Schreckens. Das war ihm schon vorher passiert. Es war nur eine der Formen, die seine Schlaflosigkeit annahm. Also tat er das Übliche. Er stand auf und lief ein wenig herum. Er fühlte sich schwach auf den Beinen. Und plötzlich hatte er, aaaaaaaaaaaaah, eine Vision, eine Inspiration.

Er war schon ein schlechter Student gewesen. Seine Doktorarbeit in Yale, über die kommunistischen Aktivitäten amerikanischer Schriftsteller zwischen 1929 und 1942, wurde zunächst abgelehnt. Trotz – oder wegen – zahlloser Interviews, die er dafür geführt hatte, war ihm der Text zu subjektiv geraten. Angenommen wurde die Arbeit erst, nachdem er sie objektiviert – und verlangweiligt hatte.

Da war er, geboren 1930 in Richmond, Virginia, bereits als professioneller Baseballspieler gescheitert und in seinen Mittzwanzigern. Wenn nicht Sport, dann Journalismus. Den das Schreiben lag ihm noch mehr als das Werfen harter Bälle. Es lag ihm, seit er als kleiner Junge eine Biografie von Napoleon Bonaparte in die Hände bekam, von Emil Ludwig, der in bemerkenswertem Ton anhebt: „Eine junge Frau sitzt in einem Zelt. In einen Umhang gehüllt stillt sie ihr Baby und lauscht einem fernen Rumpeln und Brüllen.“

Das ist er. Der Satz, der aus Tom Wolfe einen Schreiber gemacht hat. Große Geschichte. Nicht nur im Präsens erzählt, hart am Leben entlang. Auch herbeifabuliert, wie es den gewesen sein könnte, wie es gewesen sein muss, mit dem Kommenden als Theaterdonner aus den Kulissen: „Das hat mich so beeindruckt, dass ich selbst eine Biografie von Napoleon zu ­schreiben begann“, erzählte er später: „Natürlich schrieb ich viel bei Emil Ludwig ab. Ich war zu dieser Zeit acht Jahre alt.“

Seine erste Anstellung als Reporter hatte er bei der Washington Post, und die schickte ihn sogleich als Korrespondent nach Kuba. Schon hier kam er mit seinem Anspruch an lebendiges Schreiben ins Gehege mit den Geboten eines seriösen, aber blutarmen Journalismus: „Immer, wenn ich über Adern zu schreiben versuchte, die auf der Stirn des kubanischen Revolutionsführers aufpoppten, wurde mir das abgeschlagen. Alles, was sie wollten, war: Verteidigungsminister Raúl Castro sagte gestern, dass …“

Preise für seinen Stil bekam er dennoch, wechselte zur New York Herald Tribune, wo das Wilde gewünscht war. Kein „Ken, 26, blickt müde aus dem Fenster …“. Sondern Collagen aus inneren Monologen, langen Dialogen, Perspektivwechseln, fiktiven Ausschmückungen und sehr genauen Beobachtungen örtlicher Soziolekte sowie winzigster Details und abbrechender Gedank- … eine satzzeichenreiche Technik, die er exilierten sowjetischen Schriftstellern abgeschaut hatte.

In diesem literarischen Stil setzte er 1968, zur rechten Zeit also, dem in einem Bus durch Kalifornien tourenden Kollegen Ken Kesey ein Denkmal, den LSD-schuckenden Hippies damit auch – und sich selbst als Beobachter. „The Electric Kool-Aid Acid Test“, eigentlich eine Reportagereihe, gilt noch heute als Wolfes stärkstes Buch. Es liest sich wie der Urtext dessen, was später, im Silicon Valley, als „Tech Culture“ mit ihren messianischen Gurus zur vollen Entfaltung kommen sollte.

Magischer Schutzmantel

Schon damals wahrte Wolfe die journalistische Distanz. Statt sich den „Merry Pranksters“ mit Batik anzuverwandeln, distanzierte sich Wolfe mit feinem Zwirn, ein magischer Schutzmantel. Der machte ihn lesbar als das, was er war – Sohn eines Plantagenbesitzers aus den Südstaaten. Als Dandy, der die Etikette kennt, um mit ihr brechen zu können.

Und als Profi, der da hingeht, wo es dreckig ist – sich dabei aber nicht schmutzig macht. Eine Marke mit Markenzeichen, die Ökonomie der Aufmerksamkeit im Sinn und den Markt immer im Blick. Schon 1970 versammelte er Texte ähnlich arbeitender Kolleginnen und Kollegen wie Joan Didion, Truman Capote, Norman Mailer oder Hunter S. Thompson in einem Reader, um dem Stil einen Namen zu geben: „New Journalism“.

Als Profi ging er dahin, wo es dreckig ist – ohne sich dabei schmutzig zu machen

In aberwitzig galoppierenden, unter Ausrufezeichen und Gedankenstrichen und Lautmalereien nur so ächzenden Stücken für Magazine von Esquire bis zum Rolling Stone begleitete er die Dekade des „Ich!“, als die er die siebziger Jahre empfand, schrieb über den Musikproduzenten Phil Spector oder, ohne dabei gewesen zu sein, in „Radical Chic“ über Leonard Bernstein, wie ihm die nächtliche Idee kam, Werbung für die Black Panthers zu machen: „At 2 or 3 or 4 a.m., somewhere along in there, on August 25, 1966, his 48th birth­day, in fact, Leonard Bernstein woke up in the dark in the state of wild alarm …

Er schrieb über das Silicon Valley, als dort noch die Palmen standen („The Tinkerings Of Robert Noyce“), die Psyche von Astronauten („Der Stoff, aus dem die Helden sind“) und den Fluch der architektonischen Moderne („From Bauhaus To Our House“). Aus einer außer Kontrolle geratenen Reportage über Banker in Manhattan wurde versehentlich (und dank eines übermenschlich guten Lektorats) „Fegefeuer der Eitelkeiten“ – erschienen wieder zur rechten Zeit, dem Börsencrash von 1987.

Mit diesem ersten echten Roman, seinem größten Erfolg, begann auch Wolfes langer und kaum merklicher Sinkflug. Nun wollte er nicht mehr Journalist, nun wollte er Flaubert oder Balzac sein. Ein ganzer Kerl. Mit den Mitteln des romanhaften Realismus aber konnte Wolfe den zentrifugalen Realitäten der USA literarisch nicht mehr beikommen. Nicht den Spekulanten („Ein ganzer Kerl“), nicht dem Bildungssystem („Ich bin Charlotte Simmons“), nicht der Einwanderungsgesellschaft („Back to Blood“). Was noch in ihm brannte, die Angst vor dem Nichts, den Willen zum Panoramischen, den quecksilbrigen Witz, das trugen Nachfolger wie Bret Easton Ellis, Jonathan Franzen oder Michael Chabon weiter als Fackel.

Zuletzt lehnte er sich, in „Königreich der Sprache“, noch einmal gegen das verhasste akademische Establishment auf. Da war seine Wandlung vom aufrechten Konservativen, der er zeitlebens war, in einen altersbitteren Reaktionär schon vollzogen. Unter Aufbietung all seiner furiosen Brillanz wollte er hier Noam Chomsky als Schwindler entlarven; und Charles Darwin gleich dazu. Aus dem fernen Rumpeln und Donnern war ein Poltern geworden, auf Papier.

Er sah sich vor sein Publikum treten, mit einem weißen Borsalino auf dem Kopf und in einem seiner niemals weißen, nein!, vanillefarbigen Zweireiher, mit einem zu Hemd und Krawatte passenden blauen Einstecktuch, Two-Tone-Schuhen, wie Al Capone sie schon getragen hatte, und seinem grauen Wollmantel mit nur einem einzigen Knopf, unpraktisch, ja, aber für die Eleganz muss man Opfer bringen, und er hörte sich sagen, laut und mit einem ganz feinen, kaum erkennbaren Lächeln: „Ich war ’n schlechter Journalist. Der beste schlechte Journalist aller Zeiten. Habt ihr nich gemerkt, was?“