berliner szenen
: Die staubt ihre Bücher ab

Der Frühling ist da, die Sonne scheint, wir machen es uns schön. Aus allen Fenstern im Hof hängen Staubtücher und Bettlaken. Frau Kasimir von gegenüber staubt ihre Bücher ab. „Guck mal, die staubt ihre Bücher ab!“, sage ich zu Paul. „Meinst du, sie zieht aus? Bestimmt hat ein fieser Investor ihre Wohnung übernommen und sie kann sich die Miete nicht mehr leisten!“ Horrorszenarien aus der Videothek der Gentrifizierung spielen sich vor dem inneren Auge ab. Ich bin kurz davor, mein Superheldinnenkostüm aus dem Schrank zu holen.

Paul winkt ab. „Das macht die regelmäßig“, sagt er. „Mindestens einmal im Jahr.“ Ich bin perplex. In meiner Familie gab es immer nur zwei Gründe, Bücher abzustauben: entweder um sie in Kisten zu packen und in eine neue Wohnung zu transportieren oder um sie zu lesen. Bei den zahlreichen Umzügen meiner Eltern war das Problem, dass die Brigade der Umzugshelfer aus den Freunden meiner Eltern bestand. Alles Intellektuelle. Die staubten die Bücher ab, legten sie dann aber nicht in alphabetischer Reihenfolge in die bereitstehenden Umzugskisten, sondern schauten auf den Einband, riefen: „Mensch! Ditt habt ihr!!!“, und dann setzten sie sich auf die Kisten und lasen. Und jedes Mal sagte meine Mutter dann: „Beim nächsten Umzug möchte ick so viel Geld haben, dass ich mir ein Umzugsunternehmen leisten kann, das die Sachen nicht nur transportiert, sondern auch ein- und wieder auspackt. Das ist wahrer Luxus!“

Ich habe die Bettwäsche aus dem Wohnzimmerschrank raus- und in den Schlafzimmerschrank wieder eingeräumt, alle Garnrollen in der Nähkiste nach Farben sortiert, Pauls Socken gebügelt und die Fenster geputzt. Das muss reichen. Die Bücher staube ich ab, wenn wir ausziehen. Oder wenn ich Zeit habe, sie zu lesen.

Lea Streisand