die wortkunde
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An einer Tempelhofer Grundschule wird eine Schülerin antisemitisch gemobbt. Ein prominenter Kommentar dazu tut das als „EINZELFALL“ ab. Das ist, nachdem in den vergangenen Monaten bereits wiederholt über antisemitische Vorfälle an anderen Berliner Schulen diskutiert wurde, schlicht falsch. Nun deklarierte den Einzelfall ausgerechnet Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD).

Und damit wären wir beim Kern des Begriffs „Einzelfall“ angekommen. Gekleidet in den schlichten grauen Tönen von Recht und Verwaltung, soll er bloß nicht als das wahrgenommen werden, was er ist: ein Politikum. Das zu sein muss ihn nicht diskreditieren. Zumal auch die Kritik an ihm System haben kann. Wenn etwa diejenigen, die in jedem Menschen syrischer Staatsbürgerschaft, die*der eine Brieftasche klaut, eben „keinen Einzelfall“ sehen (wollen) – sondern einen Beweis für grundlegende Verkommenheit bestimmter Menschengruppen.

Der Einzelfall soll nicht abbilden. Die, die von ihm reden, wollen formen, wollen Deutungshoheit über ein Ereignis gewinnen. Einfach macht es dabei, dass der Einzelfall die Dinge wirklich einfach macht. Gibt es nun zu viel Antisemitismus an Berliner Schulen oder nicht? Ja oder nein, it’s as easy as that. Je nachdem, wie die Entscheidung ausfällt, liegt dann eben ein oder kein Einzelfall vor und es gilt Konsequenzen zu ziehen. Diese sind in der Entscheidung zum Einzelfall schon mitgedacht. Sie sind der Zweck, er das Mittel. Als Politikum ist er dazu da, Differenzierung zu verhindern, Statistik beiseite zu schieben und von Struktur erst zu reden, wenn es um die Konsequenzen geht.

Interessant, dass der Einzelfall dadurch, dass er nie neutral sein kann, sich eine seltsame Art der Neutralität bewahrt hat. Zurzeit haben die Rechten den Ausruf: „Kein Einzelfall“ zu einem ihrer liebsten erklärt – um über Taten nicht-weißer Mitbürger*innen zu lamentieren. Doch auch der Einzelfall ist ihnen nicht fremd. So sahen konservative Kräfte früher mal einen „Einzelfall“, wenn Antifaschist*innen und POCs von radikalen Volkskörperauswucherungen ins Krankenhaus geprügelt wurden. Die marktliberale Fraktion wiederum markierte mit dem Begriff Korruption und Steuerhinterziehung als Merkmal einzelner, verkommener Individuen.

Im rechtlichen Sinn gibt es den Einzelfall übrigens tatsächlich auch. Bei Interesse daran, was den Einzelfall nun ausmacht, schlagen Sie doch hier nach: § 35 Satz 1 VwVfG.

Arved Clute-Simon