Benjamin Moldenhauer
Popmusik und Eigensinn
: Nervöse Flucht aus der Enge

Bis vor gar nicht allzu langer Zeit waren Versuche, in Deutschland Popmusik zu machen, verkrampft. Das war schön. Eines der vielen Zeichen der von außen aufgezwungenen Zivilisierung nach 1945: Man wollte Amerikaner oder Engländer sein, und die guten Bands, die etwas „spezifisch Deutsches“ machten, klangen meist nach Militär oder Autobahn und waren dekonstruierend gedacht. Spätestens seit der Fußball-WM 2006 aber wurde der deutsche Pop vom Zwang zur Gelöstheit und dem mit ihm einhergehenden ideologischen Elend ergriffen. Heute singen junge Menschen ungestraft über das, was sie für Heimat halten, und über die herbeigesehnte Altbauwohnung.

Der noch immer unermüdlich durch die Lande tourende Phillip Boa wird in diesem Zusammenhang meist vergessen. Mit seiner Band The Voodooclub konstruiert er seit den 80ern eine am britischen Pop orientierte, mit großem Ernst zelebrierte Exzentrik als Modus des Andersseins. Was damals faszinierend klang, wirkt heute in seiner Ambitioniertheit verkrampft – und deswegen bewahrenswert. Boas Platten versprachen artifizielle Gegenwelten, die mit Deutschland nur wenig zu tun haben wollten. Absichtsvoll schräg geschrummelter New Wave, akzentsattes Englisch, Percussion-Gedengel, B52s-Bubblegum-Pop und Gothic-Versatzstücke purzelten durcheinander, zusammengehalten vom „interessant-nervösen“ (Silvia Szymanski) Habitus Boas.

1991 zog er mit seiner damaligen Lebensgefährtin und Voodooclub-Sängerin (und in vielem wohl maßgeblichen Komponistin) Pia Lund nach Malta – ins „Exile“, wie es eine im selben Jahr erschienene Live-CD verstanden wissen wollte. Dann fuhrwerkte er durch die damals gängige Elektronik und versuchte, so viel wie möglich ins eigene Koordinatensystem zu zerren. Noch dem Metal-Ableger Voodoocult, dessen Debüt dank Dave Lombardo (Schlagzeug) und Mille Petrozza (Gitarre) dolle schädelt, merkt man den Willen zur Kunst sehr an. Bestimmend aber ist durchgängig die Idee „Pop als Eskapismus“. In den guten Momenten klingt sie nach dem Soundtrack einer geglückten Flucht vor der Enge, die die Heimat bedeutet – mit allen ästhetischen Mitteln, ob man sie nun beherrscht oder nicht.

Samstag, 10. 3., 20 Uhr, Schlachthof