Gar nicht aufs Geratewohl

Gerald Pirner ist blind – und er ist Fotograf. Die Lightpainting-Methode hilft ihm dabei. Zusammen mit anderen blinden Fotografen stellt er nun seine Bilder aus: „Was du nicht siehst“

Der Fotograf, wie er sich wahrgenommen hat: Gerald Pirner in einem Selbstporträt Foto: Gerald Pirner

Von Uta Schleiermacher

Wenn Gerald Pirner fotografiert, bewegt er sich mit einer Taschenlampe durch einen komplett abgedunkelten Raum. Er tastet kurz, um die Schulter seines Fotomodells zu finden, dann knipst er die Lampe an und malt mit dem Lichtstrahl den Bogen des Rückens nach. Auch eine Hand und das Gesicht leuchtet er aus. Auf dem späteren Bild wird das matt erleuchtet zu sehen sein. Der Rest des Körpers hebt sich nur schwach vor dem dunklen Hintergrund ab. Über der Figur schweben ein paar Lichtschlieren auf dem Bild, die aber diesmal eher zufällig auf die Aufnahme geraten sind.

Doch damit ist die Arbeit für den Fotografen noch nicht abgeschlossen. Pirner ist vollständig erblindet. Um zu überprüfen, ob das Bild so geworden ist, wie er es beabsichtigt hat, lässt er sich im nächsten Schritt von seiner Assistentin Heidi Prenner Bildaufbau und Wirkung beschreiben. Detailliert schildert sie ihm, was zu sehen ist, wie stark die Kontraste sind und wie die einzelnen Bildelemente zueinander stehen: dass sich hier also Hand, Gesicht und Schliere wie eine Diagonale durchs Bild ziehen. Wenn das Foto seiner Vorstellung noch nicht entspricht, macht Pirner einen neuen Versuch, nimmt vielleicht eine andere Taschenlampe mit härterem oder weicherem Licht.

„Lightpainting“ nennt sich diese Methode, also das teilweise Ausleuchten und Nachmalen von Figuren oder Gegenständen, während die Kamera auf Dauerbelichtung eingestellt ist. Blinde FotografInnen können mit diesem gestischen Vollzug beim Bildermachen so weitestmöglich unabhängig von ihren sehenden AssistentInnen Fotos machen.

Die Schau In der Ausstellung „Was du nicht siehst“ werden in der Galerie Kungerkiez in Treptow fünf blinde FotografInnen präsentiert. Vernissage in der Karl-Kunger-Straße 15 ist am Freitag, 9. März, um 19 Uhr. Zu sehen ist die Schau bis 31. März, immer Donnerstag bis Sonntag von 15 bis 19 Uhr. Führungen nach Vereinbarung.

Die Beteiligten Zu sehen sind bei „Was du nicht siehst“ Fotos von Susanne Emmermann, Mary Hartwig, Silja Korn, Andreas Krüger und Gerald Pirner. Die FotografInnen sind an vielen Tagen in der Galerie anwesend und zeigen, wie sie arbeiten. Dazu haben sie ein temporäres ­Lightpainting-Studio eingerichtet, in dem sich BesucherInnen porträtieren lassen können – das jeweils samstags und sonntags um 15 Uhr. (usch)

Pirner, der sich auf Porträts spezialisiert hat, hat dadurch fast alles selbst in der Hand. Er bestimmt das Bildformat und das Motiv, er bittet seine Modelle meist, eine bestimmte Haltung einzunehmen, und belichtet dann die Stellen, die er möchte. So kann er seine Idee von Licht, Dunkelheit und Motiv umsetzen. Auch Selbstporträts hat er so schon gemacht.

„Jeder Fotograf braucht eine Vorstellung, eine Vision von dem Bild, das er machen möchte“, sagt Karsten Hein, der seit mehreren Jahren Seminare für blinde Fotografen an der Alice-Salomon-Hochschule leitet. „Wenn ihm diese Vorstellung fehlt, kann er nur aufs Geratewohl drauflosknipsen – und auf den Zufall hoffen. Daher gibt es so viele schlechte Fotos“, sagt er. „Blinde Fotografen dagegen kultivieren diese innere Vision und setzen sie mit einem Apparat um, zu dem bloß etwas mehr gehört als nur die Kamera selbst.“

Für Gerald Pirner ist es noch mehr als das. Mit dem Zerrissenen, Unvollständigen auf seinen Fotos, dem Angefressenen, als ob etwas an den Bildern genagt hätte, möchte er auch eine andere Art des Sehens abbilden. So, wie er selbst im Prozess seines Erblindens gesehen hat.

Er würde seinen Beitrag zur Fotografie daher weiter fassen. „Durch die Blinden lernen die Sehenden erst richtig sehen“, sagt er. „Sie überblenden das, was sie auf den ersten Blick wahrnehmen, und werden auf ganz andere Dinge aufmerksam, die sie erst vielleicht gar nicht bemerkt haben.“ Denn Bilder, meint Pirner, entstehen ja nicht allein durch den visuellen Eindruck. „Bilder sind ein Zusammenspiel zwischen sehen und Sprache. Es gibt immer eine Erzählung, die eingreift in das, was wir sehen; BetrachterInnen ergänzen und füllen Leerstellen“, sagt er.

„Durch die Blinden lernen dieSehenden erstrichtig Sehen“

Gerald Pirner, Fotograf

In der Ausstellung „Was du nicht siehst“ in der Galerie Kungerkiez, in der die Fotos von Pirner und vier weiteren blinden FotografInnen nun zu sehen sind, werden die Bildbeschreibungen daher eine wichtige Rolle einnehmen: als Ergänzung zu den gezeigten Fotos und bei Führungen.

Pirner möchte so auch von dem Klischee wegkommen, dass Blinde nichts mit Bildern anzufangen wüssten. Er selbst fühle sich geradezu „von Bildern überschwemmt“. Ein Effekt des Sehens sei, dass dadurch viele andere vorstellbare Bilder ausgeschlossen würden. „Doch anders als Sehende werde ich diese Bilder nicht mehr los, sie werden nicht von dem, was ich tatsächlich sehe, überlagert.“ Wenn er seine Vorstellungen als Fotos fixiert, ist das auch wie ein Versuch, diese innere Bilderflut zu kanalisieren.