Nackt zu Geigen-Beats tanzen

Sounds, die etwas über das Leben erzählen und neue Wahrnehmungsweisen für ein anderes In-der-Welt-Sein bieten: Eindrücke vom ersten Wochenende des Musikfestivals CTM

Oldschool: Das Duo Naked deutet SM-Praktiken als Metapher auf soziale Kontrolle Foto: Isla Kriss/CTM

Von Philipp Rhensius

„Jetzt lächel doch mal“, sagte die Frau zu mir. Ich verneinte – und dann war sie auch schon wieder weg. Später dann, im Kunstnebel, einsam, aber geborgen im Kollektiv, hatte ich kurz ein schlechtes Gewissen. Aber nur aus Empathie, nicht aus politischen Gründen. Denn es blieb keine Zeit, ihr zu erklären, dass mir das Lachen vergangen war.

Nicht, weil die Musik des britischen Noise-Duos Naked so erschütternd war, nein, sondern weil ihr Weltleiden, das sich in den ultraverschwommenen Neo-Industrial-Beats von Alexander Johnston und den kontrollierten Schreien der Sängerin Agnes Gryczkowska äußern wollte, einfach nicht überzeugend war. Ihre Show schien wie die Kopie einer Performance, die sich genau so auch vor 20 Jahren hätte ereignen können. Mit dem Unterschied, dass sie damals noch so etwas wie einen leichten Schock ausgelöst hätte. Auf seinem Album „Total Power Exchange“ bezieht sich das Duo auf die Sklaven-Herrscher-Beziehung in SM-Praktiken, die sie als Metapher auf soziale Kontrolle verstanden wissen wollen.

Doch statt einer Katharsis löste das nur einen lauen Retro-Schauer aus. Darüber dann zu lächeln, wie es die junge Frau gefordert hatte, hätte nur ironisch oder zynisch gemeint sein können. Und das ist nun wirklich nicht angebracht in einer Zeit der Pawlow’schen „Gefällt mir“-Konditionierung, in der kalkulierter Unernst nicht mehr subversiv ist, sondern längst eine Strategie des Establishments, nicht zu vergessen von einigen gewitzten Rechten.

Es ist natürlich eine Frage der Perspektive und des Geschmacks, eine Musik am Gehalt ihrer Innovation zu beurteilen, vor allem heute, wo doch anscheinend ohnehin alles schon mal dagewesen ist. Aber einem Festival wie dem CTM, auf dem es seit der Gründung 1999 stets um neue, abenteuerliche Klänge geht, um neue Wahrnehmungsweisen für ein anderes In-der-Welt-Sein, sollte eigentlich daran gelegen sein, die Wirklichkeit nicht zu reproduzieren, indem sie die vom neuen Wirklichkeitshunger getriebene Lust an der Identifikation mit Pseudoradikalität bedient, sondern zu erweitern, zu brechen, zu perforieren.

Gebrochen waren die Rhythmen im unteren „Designed Disarray“-Floor mit KünstlerInnen wie DJ Occult, die vor allem Ghetto-Tech und Booty Bass auflegte oder Errorsmith, der mit seinen sinneserweiternden Sounds das Publikum aufmischte, nachdem die Tanzbeine längst verknotet waren. Denn zuvor spielte Jlin, die derzeit experimentellste Vertreterin des Chicagoer Tanz-und Clubmusikstils Footwork. Ihr Liveset, in dem sie unablässig sich verändernde Polyrhythmen übereinanderschichtete, waren wirklich neu – und eine He­rausforderung für Körper und Geist.

Endlich waren sie da, die Sounds, die etwas über unser Leben erzählen: stetig war man auf der Suche nach der Zählzeit, die sich mit jedem neuen Beat neu justierte, als springe man von Plateau zu Plateau. Stetig war man unterwegs, ohne anzukommen, und wechselte sein Selbst in jeder Sekunde.

In die unmittelbare Gegenwart wurden die ZuschauerInnen dann zum Schluss katapultiert

Mit sehr freien Tanzschritten operierten auch die elf TänzerInnen am Sonntagabend im HAU-Theater bei „Ernest Berk – The Complete Expressionist“, einer Hommage an den 1993 verstorbenen, deutsch-britischen Choreografen und Pionier für elektronische Musik, Ernest Berk. Gezeigt wurden zuerst einige kurze Tanzstücke für Solo oder Duo, die der Berliner Choreograf Christoph Winkler neu überarbeitet hat. Die eklektischen, oft nichtwestlichen Stilbezüge illustrierten schnell, wovon der Professor für Theaterwissenschaften Patrick Primavesi im vorherigen Talk nur fabulieren konnte: dass Berk, wie auch einige seiner inzwischen betagten MitstreiterInnen in eingespielten Video-Interviews beteuerten, seiner Zeit weit voraus war.

Vor allem seine Kompositionen aus den frühen 1960er Jahren, die vom Band abgespielt wurden, klangen sehr zeitgenössisch – und erinnerten sowohl an die Drones des britischen Duos Demdike Stare oder den unbehaglichen Lärm der Einstürzenden Neubauten.

In die unmittelbare Gegenwart wurden die ZuschauerInnen dann zum Schluss katapultiert. Bei einer neuen Interpretation der improvisierten „Trance Dance Sessions“, für die Berk berüchtigt war, bewegten sich die TänzerInnen nackt zu den technoiden und mit verzerrter Live-Geige erzeugten Beats des japanischen Noise-Duos Group A. Dass es bisweilen aussah wie eine Szene aus dem bis 2016 indexierten Horrofilmklassiker „Tanz der Teufel“, passt perfekt zum ersten CTM-Wochenende. Und macht Lust auf die nächsten Tage. Zur Not auch mit Lächeln.