Übers Wünschen

Wer dem Wünschen auf die Spur will, muss auch versuchen, Schneewittchens Stiefmutter zu verstehen

Abendlich unbekanntes Fenster in Deutschland – mit Schmuck aus Transparentpapier Foto: Kerstin Koletzki/bobsairport

Von Waltraud Schwab

Die folgenden Ausführungen sind ein Auszug aus einem bisher nicht geschriebenen Roman.

Das ist lange her, dass sich Maria F. O. – (sie ist die Hauptfigur in dieser ungeschriebenen Geschichte) – aus freier Seele etwas wünschte. Aus freier Seele – verstehen Sie. Es soll kein Wunsch sein, der aus einem Mangel entstanden ist, wie so oft, und einem inwendigen Erfrieren gleichkommt. Verpackt als Wünsche sind diese, einmal ausgesprochen, doch nur Klage. Anklage auch. Jemand soll etwas tun, damit der Wunsch sich erfüllt. Ha, dieser Wunsch nach Anerkennung. Jener nach Vergebung. Oder dieser übermächtige Wunsch nach mehr Liebe der Mutter. Egal was sie, diese Mutter, die ein Kind zur Welt bringt, tut, nie wird sie richtig lieben, ausreichend, ausgewogen, froh. Vielmehr wird ihre Liebe zu innig sein, zu selbstlos, zu egoistisch, zu weich, zu salzig, gierig, ungreifbar, hart und zusammenziehend, bis die Schleimhaut im Mund pelzig wird.

Damals als Maria F. O. noch wünschen konnte, hatte sie Wünsche nur an sich selbst. Nicht an andere. Sie wollte etwas tun, um erfüllt zu sein. Ihr größter Wunsch, der gleichzeitig einem Mangel an Liebe entsprang: Dass sie einmal eine Fiktion Wirklichkeit werden lassen werde, indem sie sie aufschreibt, dabei jedes Detail erfindet, die Augenfarbe ihrer Protagonistin noch unklar, sie schwankte zwischen Braun und Blau, (nur dass es eine Frau sein wird, das wusste sie), aber eine andere Figur, dessen war sie sich sicher, würde grüne Augen haben.

Noch wusste sie auch die Größe des Mundes nicht zu benennen, wiewohl sie wollte, dass er geküsst werden wird und sei es, weil das Küssen zu beschreiben ihr eine so große Herausforderung schien, dass sie auch diese bestehen wollte.

Andere Figuren, denen ihre Protagonistin begegnet (und einer davon sollte ein Journalist sein), musste sie zudem erschaffen. Hinzu kam all das, was geschehen wird, als wäre es wahr. Es sollte ein Buch werden, in der eine Geschichte steht, die einen Anfang hat, eine Mitte und ein Ende. Aber, sie, Maria F. O., (wofür die Initialen stehen, weiß niemand), die diese Fiktion erschaffen wollte, kam nicht über den Anfang hinaus. Denn es ist eine Anmaßung, Wirklichkeit herstellen zu wollen, und hätte sie das Buch je geschrieben, sie wäre Gott gewesen, der diese Protagonistin ins Leben gebracht und eine Welt um sie herum geschaffen hätte, in der die Heldin, denn dass sie eine Heldin ist, steht außer Frage, zwangsläufig gescheitert wäre. Warum? Weil das Göttliche in ihr, in Maria F. O., melancholisch war.

Aber das ist lange her. Sie hatte aufgehört, in Wünschen zu denken. Denn sie hatte gelernt, dass das Wünschen nur Gegenwart kennt, keine Vergangenheit und keine Zukunft. Wünsche sind ausgefranstes Wollen, sind absplitternde Versprechen an niemanden und alle: weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz und kaum geht der Wunsch in Erfüllung, ist da, wo vorher das Begehren war, ein Hohlraum, eine Leerstelle, die neu gefüllt werden will. Womit? Doch nicht etwa mit Neid, Intrige und Gewalt? Doch. Genau damit. Wurde eigentlich je versucht, die Befindlichkeit der Stiefmutter von Schneewittchen zu verstehen?

Ach, Wunsch. Es gibt kein anderes Wort, das es haargenau ersetzen könnte: Wollen. Verlangen. Streben. Sehnsucht. Anliegen. Bitte. Trügerische Hoffnung und Drang. Sie treffen nicht ganz. Und andere Worte, die sich in kleinen Nuancen von Begehren zu Zwang wandeln, Nuancen, so klein, dass es der Anstrengung bedarf, das Echo der Worte zu hören, kamen Maria F. O. noch in den Sinn und am Ende war der Wunsch ausgelöscht, weil er eine Forderung war. Es soll ein persischer Dichter gewesen sein, Qudsi Maschhadi sein Name, im 17. Jahrhundert hat er gelebt, der gesagt habe, dass es nicht gut sei, wenn ein Wunsch „sich vollendet“, denn danach würde das Blatt umgedreht.

Auf der umgedrehten Seite indes steht nicht der Wunsch, sondern das Vergessen. Was, fragt sich Maria F. O., als sie am Fenster im Zimmer steht, die Tür zum Balkon offen, und auf die Straße davor blickt, ist das Gegenteil des Wünschens?

Ich vergaß zu sagen, dass diese Maria, (ich lasse die Initialen jetzt weg, weil sie nicht wichtig sind), immer wenn sie die Leere in sich spürte, zum Fenster hinaus schaute. Erst durch die Menschen, die sie unter sich und in der Ferne sah, konnte sie die Gewissheit, dass ihre Existenz nicht von so außerordentlicher Bedeutung war, dass sie daran zugrunde gehen müsse, ahnen.

Wunschleer fragte sie, was sich die Leute auf der Straße wünschen? Da, der, der jetzt hupend in seinem Auto hinter einem Lieferwagen steht. Der Fahrer des Lieferwagens hatte angehalten, um mit einem Mann auf dem Bürgersteig zu sprechen. Oder dieser Mann, Briefträger, der sein gelbes Fahrrad vor dem Haus gegenüber abstellt, die Mütze vom Kopf nimmt, sich den Schweiß von der Stirn wischt? Sie sucht Worte für seine Wünsche, obwohl sie ihn nicht kennt. Und was ist mit den Mädchen, Teenager sind es, dort hinterm Spielplatz unter Bäumen?

Wünsche seien nie klug, soll Charles Dickens geschrieben haben, und das sei noch das Beste an ihnen. Dass die Mädchen unter den Bäumen dies akzeptieren, war ausgeschlossen. Natürlich hatten sie Wünsche, große, hoffnungsvolle und wer ist Dickens, werden sie fragen. Möglich, dass ihnen geantwortet wird, der habe (was falsch ist, aber von vielen geglaubt wird), den kleinen Lord erschaffen, eine verwunschene Figur, (wie Schneewittchen), die jedes Jahr zu Weihnachten im Nachmittagsprogramm gezeigt wird. Die Mädchen müssten sich doch an den kleinen Lord erinnern, diesen Kindmessias des 19. Jahrhunderts, sie guckten das doch. Dem kleinen Lord gelang alles, weil er sich die Welt schön dachte.

Aber sorry, das interessierte die Mädchen nicht, die Maria vom Fenster aus sah, dort hinten unter den Bäumen in diesem heruntergekommenen Stadtteil Berlins. Die Welt war nicht so. Für Teenager schon gar nicht. Das Gegenteil des Wünschens nämlich ist die Verneinung. Abneigung, Gleichgültigkeit, Abscheu. Ungnade. Ärger, Fluch. Damit kannten sich die Mädchen sehr gut aus.

Maria, diese Maria am Fenster, ahnte die Wünsche der Mädchen, aber sie wusste auch um all die Verneinungen, die die Mädchen erleben werden. Und weil sie darob in Wut geriet, aber auch über den immer enger werdenden Planeten, der die Feldvögel in diese verlotterte Straße in Berlin trieb und den Kinder die Luft zum Atmen und Großwerden nahm, spürte sie sich wieder. Und ah, dabei kam sie (wie Schneewittchens Stiefmutter) der Verneinung des Wünschens doch auf die Spur: Es musste das Verwünschen sein. Aber so weit war sie noch nicht.

Und nun dies: Ich, die ich die Urheberin bin dieser ungeschriebenen Geschichte, in der sich Maria wünscht, eine Fiktion zu erschaffen, wünschte mir, Sie, die bis hierhin gekommen sind, würden diese Geschichte lesen wollen, wenn sie geschrieben wäre. Denn ich bin nicht so selbstlos wie die Protagonistin, die Wünsche nicht an andere, sondern nur an sich selbst richtete, bevor sie ganz aufhörte, sich etwas zu wünschen.

Unsere Wünsche seien Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns lägen, schrieb Goethe, sie seien Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden. Ach Gott.

Was soll sich ändern?