Leben unter Obdachlosen: Mitleiden

Ein Empathie-Workshop über das Leben unter Obdachlosen kann anmaßend sein. Aber die Inszenierung „Das halbe Leid“ funktioniert

Den Rand der Gesellschaft nachspielen Foto: Erich Goldmann

Was macht man, wenn man sieht, wie jemand brutal verprügelt wird? Was man in der Kneipe maulheldenhaft diskutiert, wird in der Inszenierung „Das halbe Leid“ ganz praktisch gelebt. Angst und Wut sind genauso spürbar wie Ratlosigkeit. Eine ältere Dame geht dem Schläger an die Kehle und fliegt durch den Raum. „Das machst du nicht, wenn ich dabei bin!“ – Sie weiß: Diese Szene wird sich wiederholen. Sie weiß aber wie alle anderen Besucher auch, dass das alles Teil einer Theater-Performance ist, die die Ränder der Gesellschaft lebensecht nachzustellen versucht. Dieses Wissen wird während der zwölfstündigen Inszenierung allerdings schnell nutzlos.

Die Erfahrung, der man sich beim Besuch der neuen Signa-Produktion „Das halbe Leid“ aussetzt, geht vom ersten Moment an nahe. Auf dem Ticket, das man am Rolltor der stillgelegten Werkshalle in Barmbek abgibt, ist noch das Logo das Hamburger Schauspielhauses drauf. Aber das Erhabenheitsgefühl des Theaterbesuchers kommt nicht auf. Die eigene Kleidung hängt bald im Blechspind und man trägt eine Jogginghose und ausgelatschte Turnschuhe. So sehen alle aus, mit denen man diese Nacht verbringt, die Schauspieler und die Besucher. Alle nehmen an einem Workshop für Empathie teil, so die Spielverabredung. Und die „Leidsätze“ für die Teilnehmenden lauten so:

1.: Ich trage deine Kleidung und deinen Namen.

2.: Ich ekel mich nicht vor dir.

3.: Ich darf dich nicht beurteilen.

4.: Ich versuche nicht, dir dein Leid wegzunehmen.

5.: Ich nehme Teil an deinem Leid.

Wir Gäste, die hier „Kursisten“ heißen, sind auf 50 Personen begrenzt, uns gegenüber steht die gleiche Anzahl an Schauspielern. Sie stellen entweder Obdachlose, hier „Leidende“ genannt, oder die ehrenamtlichen Mitarbeiter, die „Mitleidenden“ des Vereins Das halbe Leid e.V. dar. In einem Einführungsvortrag wird die gesamte paternalistische Hölle des Sozialpädagogensprechs aufgefahren. Gleich darauf werden die Teilnehmer in einer Reihe aufgestellt und in einer Zeremonie, die an Militär und Sportunterricht erinnert, von den Obdachlosen ausgewählt. Wir sind ihre Kursisten, sie unsere Mentoren. Wir werden ihnen ähnlich und geben unsere Namen ab – wir sind Rolf I und Wolfgang II.

Die Namen stehen auf den Schildern, die vor unserer Brust hängen. Rolf und Wolfgang, der stets betrunkene Prügelknabe und der Paranoiker, bleiben für die nächsten Stunden unsere wichtigsten Bezugspersonen. Mit ihnen werden wir identifiziert und identifizieren uns bald schon selbst mit ihnen.

Joe, ein etwas untersetzter Osteuropäer feixt, Rolf frühstücke jeden Morgen drei Dosen Bier. Hase, eine junge Frau mit aufgesetzten rosa Ohren lästert über Wolfgang. Wir haben das Bedürfnis, unsere Alter-Egos zu verteidigen. Denn sie, das sind ja schließlich wir.

Das Leben als einzige kalte und finstere Nacht

Der Empathie-Workshop zeigt schon sehr früh erste Erfolge. In wahnsinnig gewordenen Versionen von Gestalt-, Musik- und Sporttherapien teilen Leidende und Kursisten ihre Erfahrungen mit Enttäuschung, Gewalt und Schmerz. Ab Mitternacht beginnt eine Phase brüchiger Nachtruhe. Das Licht erlischt, vorsichtig legt man sich in die Stockbetten der nach Geschlechtern getrennten Schlafsäle. Die Aufgabe der Kursisten ist es nun, den zugeordneten Leidenden vor seinem inneren Leid zu beschützen. Zur Ruhe kommt niemand. Man hört Schritte, Schreie und Wolfsgeheul vom Band.

Das Leben erscheint hier als eine einzige kalte und finstere Nacht. Zwischen den Schlafsälen und Seminarräumen liegt eine riesige, neon-beleuchtete Halle. Sie ist so etwas, wie ein öffentlicher Platz. Hier begegnen sich alle Akteure beim Rauchen an den Sitzbänken. Wir stehen beieinander und trinken Dosenbier. Der Leiter der Einrichtung mit dem sprechenden Namen Peter Freund bleibt stehen und sagt ein paar Sätze, die das bisher Geschehene reflektieren.

In diesem Stück, von dem man nie genau sagen kann, was gespielt wird und was echt ist, ähnelt seine Ansprache dem Erwachen im Traum. Das Spiel wird im Spiel durchbrochen. In der Ödnis dieser ewigen Nacht wird spürbar, dass man hier niemand ist und nichts hat. Das einzige, worauf man sich noch beziehen kann, ist die armselige Gestalt, die einem an die Hand gegeben wurde. Aber wo ist sie? Geht es ihr gut? Hoffentlich wird sie nicht wieder von jemandem beraubt oder verprügelt. Besonders Rolf wird häufig Opfer und so kommt man oft in den Zwang, sich verhalten zu müssen. Man kauft für ihn Bier, gibt ihm Geld und schreitet ein, wenn andere ihm ans Leder wollen. Außer Rolf und Wolfgang bleibt uns nichts in dieser Welt.

Aus dem Handgemenge kommt man nicht heraus. Ein Konflikt im Männerschlafsaal eskaliert. Serkan, Streetworker und Hinterhofboxer, greift mit einem Gürtel durch. Auf dem Rücken des Gemaßregelten bleiben blutige Striemen, sie sind der Übergang zwischen Spiel und Ernst, Fiktion und Realität. Die Keilerei verlagert sich, man beschimpft Serkan wütend als Faschisten. „Na fühlst du dich jetzt stark? Aber weißt du, morgen bist du nicht mehr da. Und dann greif ich mir deinen Mentoren. Der kriegt dann deinen Auftritt zu spüren!“ Das schlechte Gewissen wird auch Tage später noch anhalten. Was, wenn alles Mitleid nur Selbstbestätigung ist? Was, wenn die Überwindung der Angst, die mühsame Einmischung nur die Manifestierung des eigenen Selbstbildes ist? Vielleicht ist all das Wohlgemeinte nutzlos?

Nicht eklig klebrig, nicht anmaßend

Ein Empathie-Workshop könnte eklig klebrig sein. Der Versuch den verlorenen Rand der Gesellschaft lebensecht nachzustellen, erscheint anmaßend. Beides aber bleibt aus. Das könnte daran liegen, dass es sich hier trotz all der Theatralik weniger um Theater, sondern mehr um Kunst handelt.

Die beiden Köpfe der Gruppe – Arthur und Signa Köstler – kommen nicht vom Theater, sondern aus der Bildenden Kunst. Es geht hier nicht um das Einreißen der so genannten vierten Wand, jener Grenze zwischen Publikum und Bühne. Dieser Theaterdiskurs spielt keine Rolle. Es geht um das Beleben einer Installation, eines Environments, wie man es für Performances entwirft.

Die Produktionen der 2004 gegründeten Signa-Gruppe finden dennoch ausschließlich im Theaterkontext statt – in Kopenhagen, Wien oder jetzt eben Hamburg. Die Inszenierungen finden stets an Außenspielstätten statt, die in Schulen, Fabriken oder Mietshäusern eingerichtet werden. Auf deren Gestaltung wird mindestens genauso viel Wert gelegt, wie auf die Performance.

In der stillgelegten Werkshalle in Hamburg-Barmbek stimmt alles. Der Männerschlafsaal stinkt nach Schweiß, der Frauenschlafsaal nach Waschmittel, im Tagebuch des Musiktherapeuten kann man seine ganze traurige Liebesgeschichte nachlesen, auf jeden Gegenstand im Büro der Vereinsleiterin wurde ganz klein „Fotze“ geschmiert. Man muss dieses geschlossene System für die Dauer der Inszenierung als wahr anerkennen. Sich zu verschließen ist keine Option. Früher oder später wird man Mitspieler, schmiedet Allianzen und erzählt Dinge, wie sonst nur in Therapiesitzungen.

Viele der Vorwürfe, die oft bei immersivem Theater, bei dem die Grenzen zwischen Inszenierung und Wirklichkeit zutreffen, tun dies hier erstaunlicherweise nicht. Man denke etwa an den autoritären Moralismus des Zentrums für politische Schönheit.

Das Signa-Theater ist anti-hierarchisch organisiert – und das in mehrfacher Hinsicht. Allein, die Tatsache, dass das Geschehen kein Zentrum hat und jeder Teilnehmer potenziell etwas vollkommen anderes erlebt, ist bemerkenswert. Aber auch der Einfluss, den ein jeder selbst auf die Entwicklung der Handlung hat, trägt dazu bei.

Um halb sechs Uhr morgens endet die Nacht nach kurzem Schlaf, mit grellem Neonlicht und einer ätzenden Keyboard-Version von „Über den Wolken“. Anstehen zum Haferschleim holen, müde Gesichter, rote Augen, erneute Eskalationen und dann der Morgenkreis. Man singt, rekapituliert die Nacht, streitet und beschwichtigt. Dann zieht man sich um und bekommt die Teilnahmebescheinigung ausgehändigt, verabschiedet sich und geht.

Da steht man dann auf der Straße, Finster und arschkalt ist es. „Der Teilnehmer ist befähigt, selbstverantwortlich die für ihn hilfreichen Erfahrungen im Alltag umzusetzen.“ Das steht auf dem Testat. Ja, man hat gelitten, hat Leid gezeigt und Leid gesehen. Man erfuhr aber auch eine zynische Version von Nächstenliebe. In den „Leidsätzen“ der Mitleidenden, in denen sich die Hierarchien manifestieren heißt es: „Ich scheue kein Mittel, dein Leid zu enthüllen.“

Inszenierung „Das halbe Leid“: Werkshalle der Firma Heidenreich & Harbeck, Wiesendamm 30, Hamburg. Es gibt noch Restkarten für einzelne Termine, z.B. für Freitag, den 15.12. um 19 Uhr. Alle Termine unter www.schauspielhaus.de

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