Singen, damit etwas anders wird

Früher verstanden sich viele Rockmusiker als links und progressiv. Und heute? Marcus Wiebusch ist Sänger von Kettcar. Seine Texte ringen um eine politische Ernsthaftigkeit abseits alter Raster. Eine Begegnung

„Ich lief so unter befindlichkeitsfixierter Indie-Rocker“, beschreibt Wiebusch seine bisherige Einordnung im Pop-Markt Foto: Andreas HornoffIch

Aus Hamburg Peter Unfried

Die komplexe Welt anerkennen ist keine Schwäche. Heißt es in einem neuen Song der Rockband Kettcar. „So gut gemeint wie ästhetisch unerträglich“, höhnte die gute alte Spex. Der Satz von der komplexen Welt ist auf jeden Fall das Ende des Pop, wie wir ihn kannten. Oder?

„Willkommen in meiner Welt“, ruft Kettcar-Sänger Marcus Wiebusch und breitet halb verstanden, halb verzweifelt die Arme aus.

Montagvormittag. Draußen Regen. Wiebusch, 49, sitzt in einer Hamburger Wohnung mit Klavier und Blick auf das Millerntor, das Stadion des FC St. Pauli. Er sieht erwachsen und jung aus. Trinkt den ersten Kaffee des Tages. Erzählt, wie es zu Zeilen wie diesen kommen konnte: Keine einfache Lösung haben, ist keine Schwäche / Und einfach mal die Fresse halten, ist keine Schwäche / Nicht zu allem eine Meinung haben, keine Schwäche.

Die Großlage zum Jahreswechsel 2018 ist ja folgende: In der Folge der gesellschaftlichen Emanzipations- und Freiheitsbewegung von 1968 waren die richtigen Literaten, Deutschrocker, Künstler links oder linksliberal, auf jeden Fall progressiv und damit gesellschaftskritisch. Logisch. Heute wollen sie es immer noch sein. Spätestens seit Donald Trumps Wahl haben sie zudem das immer dringlicher werdende Gefühl, „etwas tun zu müssen“, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Aber was? Die Schriftstellerinnen Eva Menasse und Juli Zeh sind 2017 in die SPD eingetreten und haben zu deren Wahl aufgerufen.

Die SPD als Lösung im Günter-Grass-Style der goldenen 70er? Das zeigt den Grat der Verzweiflung. Wo ist in der digitalen Gesellschaft links, wo bei Klimawandel und sozialökologischer Wende, wo in Europa, wo bei den globalen Fluchtbewegungen, wo bei der Gerechtigkeitsfrage, da man sie nicht mehr auf Grundlage einer von Lohnarbeit geprägten nationalen Industriegesellschaft beantworten kann und alles mit allem verwoben ist. Ist links vorn oder ist links das Bewahren von sozialen Fortschritten der Vergangenheit?

Und dann war noch gar nicht die Rede von denen, die die emanzipierte Mehrheitsgesellschaft mit einem nationalistischen und antiemanzipatorischen Programm herausfordern. Und die diejenigen zum Mainstream machen, die selbst gerade noch dachten, sie seien der kritische Rand. Und es war auch noch nicht die Rede von der Partikularisierung der Gesellschaft, die nicht mehr schön geordnet über Volksparteien, Gewerkschaften, Kirchen und andere traditionelle Verbünde zu klammern ist. Wer sich da als Künstler geistig bewegt, wird von der darüber verwirrten Peergroup sofort als Abweichler verhaftet. Was also tun?

Marcus Wiebusch kommt aus dem Hamburger Arbeiterstadteil Wilhelmsburg. Er ist studierter Pädagoge und einer von drei Chefs des Musiker-Labels „Grand Hotel van Cleef“, eines Unternehmens, mit dem man sich eigene Vertriebs- und Erlösstrukturen geschaffen hat. Er hat die klassische Popsozialisation in einer „linksorientierten Punkband“ namens …But Alive absolviert. Wütend-selbstgerechtes Antiestablishment.

Es folgte nach der Jahrtausendwende eine künstlerische Laufbahn als populärer Act der alternativen Popkundschaft und am Rand der Mainstreamwahrnehmung, einige große Popsongs, tendenziell für „empfindsame Jungs“. „Ich lief so unter befindlichkeitsfixierter Indie-Rocker“, sagt Wiebusch.

Seit dem Erscheinen von „Ich vs. Wir“ im Herbst ist das vorbei. Die einen sind begeistert, etwa der Rolling Stone oder Spiegel Online. Die anderen klagen, Kettcar vertone stumpf „die linksorientierte Facebook-Filterblase“ oder „bundesrepublikanische Linksmainstreambefindlichkeiten“, wozu der in der Tat etwas pathetische Fluchtsong „Sommer ’89“ beigetragen haben mag.

Wieder andere sehen es genau andersherum: Ihnen fehlt die „Haltung“, ob es nicht „viel mehr Haltung“ brauche, so richtig schöne „widerständige Haltung“ gegen die neue nationalistische Rebellion. Also was denn nun? In dieser Gespaltenheit der Kritik drückt sich auch die allgemeine kulturelle und politische Verwirrtheit aus.

Wiebusch sucht ja gerade den Weg raus aus der Filterblase und einem „ständigen Abgrenzungswettbewerb“ derjenigen, die alles checken und nichts tun. Er sieht die deutsche Gesellschaft massiv nach rechts driften, aber nicht als Volksbewegung, sondern als Ansammlung von „Egomanen“, befeuert durch die entsolidarisierenden Auswirkungen der „neoliberalen Zumutungspolitik“, wie er sagt. „Wagenburg“ heißt der Song dazu.

Wiebusch war entgegen den Vorwürfen, privatistischen Indie-Schmuserock zu machen, aus seiner Sicht immer offensiv „links“, was bei ihm bedeutet: einer emphatischen und solidarischen Gesellschaft verschrieben. Aber gleichzeitig sah er sich auch in klarer Abgrenzung zu den „Moralaposteln und Weltverbesserern“, also denen, die ihr Anliegen religiös aufluden und selbstgerecht vor sich hertrugen. Das Neue bei ihm ist der dringende Wunsch, Teil von etwas Konstruktivem und etwas Gemeinsamem zu sein. Dafür sucht er eine neue Haltung, und zwar eine, die Einfluss auf die Realität hat.

Irgendwann hatte er einfach die Schnauze voll davon, dass immer alles nur scheiße zu sein hatte. Dass keiner jemals sagte: „Das ist eine geile Position, die du vertrittst, die werden wir jetzt zusammen einnehmen.“ Stattdessen ironische oder moralische Distanzierung. „Das ist Irrsinn, wenn die Kritisierer keine einzige Ideen haben, wie es besser geht“, sagt er.

„Den Revolver entsichern“ heißt der einzige Song des neuen Albums, der explizit für etwas geschrieben worden ist – nämlich für die „Gutmenschen“, die „NGO-Praktikanten“, die „mitfühlenden Seelen“, von denen Wiebusch sich früher scharf distanziert hat. Für alle, die nicht nur beklagen, was alles gar nicht geht, sondern anfangen, damit sich etwas verändert.

Er rätselt, ob das schon Altersmilde ist oder an den Kindern liegt – er hat zwei –, jedenfalls sah er nicht mehr nur die notwendige Kritik an den Verhältnissen, sondern den eklatanten Mangel an Utopie und Perspektive unter seinesgleichen. „Wo ist die lebenswerte Gesellschaft, wenn man sich knallhart außen positioniert und die Frage ihrer Organisation als sozialdemokratisch verspottet, ich sehe sie nicht“, sagt er.

Man kann Wiebusch von der anderen Tischseite aus dabei zusehen, wie er beim Sprechen um Perspektive ringt. Hände am Kopf, Augen geschlossen, Stimme stockend, Sätze tastend. Er ist kein Intellektueller, der druckreif spricht. Vor allem kein Poser, der auswendig gelernte Sätze aufsagt. Seine zentrale Frage ist auch die Frage des Albums: „Mit wem will ich eine Gesellschaft gestalten?“ Darauf hat er keine Antwort.

Das ist desillusionierend, denn man dreht sich um und findet keinen mehr. Jeder scheint auf seinem eigenen Baum zu sitzen. Aber es leitet auch die Suchbewegung ein und ist damit der radikale Abschied vom allgemeinen Festklopfen einer Weltsicht, zu der es keine Welt mehr gibt

„Ich weiß, dass das alles nicht sexy ist“, sagt Wiebusch. „Deshalb kriege ich diese ganzen Vorwürfe. Die können mich nicht mehr einordnen, aber jetzt müssen sie halt damit leben.“ Er denkt, er sei milder geworden, und ist gleichzeitig überzeugt, das politischste Album seiner Karriere gemacht zu haben. Und der Witz ist, dass das eben kein Widerspruch ist, sondern eine progressive Haltung.

Nach zwei Stunden regnet es draußen immer noch. Er hat sich warmgeredet, aufgeregt, selbst viele Fragen gestellt und Sätze gesagt, für die er sich früher vermutlich ausgepeitscht hätte. „Ein kraftvolles Wir ist der einzige Weg, etwas zu erreichen, was man eine lebenswerte Gesellschaft nennt“, ist so ein Satz. Dafür müsse es „einfach mal in die Köpfe der denkenden Menschen, dass man auch mal Sachen aushalten muss, wenn sie einem nicht gut reinlaufen, und nicht gleich draufhauen, bis der Arzt kommt“. Um sich dann wieder in die eigenen Ecken zurückzuziehen oder dort gar nicht erst rauszukommen.

In dem Song „Trostbrücke Süd“ singt Wiebusch: „Wenn du das Radio ausmachst, wird die Scheißmusik auch nicht besser.“ So sieht’s aus.