Vergiftete Schönheit

Rebecca Horn wird als erste Künstlerin mit dem Wilhelm-Lehmbruck-Preis der Stadt Duisburg und einer konzentrierten Werkschau geehrt

Den ­klagenden Stimmen lauschen, Rebecca Horns „Schild­kröten­seufzer­baum“ Foto: Attilo Maranzano

Von Regine Müller

Wie eine gigantische fleischfressende Pflanze reckt der „Schildkrötenseufzerbaum“ gierig seine Tentakel in den Raum. Das Monster verharrt still, doch dann setzt es sich plötzlich ächzend mit einem Ruck in Bewegung. Die Tentakel mit den Trichtern an ihren Enden wippen sanft und dann hört man leises Flüstern. Aus jedem Trichter tönt eine andere klagende, trauernde Stimme.

Der „Schildkrötenseufzerbaum“ entstand 1994 und ist in seiner kafkaesken Skurrilität und erschreckenden Körperlichkeit typisch für die mittlere Werkphase von Rebecca Horn. Er ist das größte Objekt der Ausstellung „Rebecca Horn – Hauchkörper als Lebenszyklus“ im Lehmbruck-Museum in Duisburg. Es ist eine Retrospektive, die mit einem neuen Werkzyklus eine überraschende Wende im Werk der 73-jährigen Künstlerin präsentiert.

Rebecca Horn ist eine der bedeutendsten deutschen lebenden Künstlerinnen. 1944 im Odenwald geboren, arbeitet sie seit den 1970er Jahren als Bildhauerin, Zeichnerin, Literatin, Filmemacherin, Video-, Installations- und Performance-Künstlerin und hat ein hochkomplexes Werk von seltener Vielfalt geschaffen.

Vier Mal bei der documenta

Allein vier Mal war sie bei der Kasseler documenta vertreten, zwei Ausstellungen ehrten sie im Guggenheim Museum, eine in der Neuen Nationalgalerie Berlin, erst im letzten Jahr war sie in der Londoner Tate Modern. Vor zwei Jahren erlitt die Künstlerin einen Schlaganfall, der bis heute ihre Beweglichkeit erheblich einschränkt. Dessenungeachtet meldet sie sich nun mit einer neuen Werkgruppe zurück, die in ihrer visuellen Wucht nichts von ihrer Erkrankung ahnen lässt: Die faszinierenden „Hauchkörper“ sind in Duisburg erstmals zu sehen.

Die große Glashalle des Museums scheint geradezu ideal für das ausgreifendste dieser neuen Objekte: Der große „Hauchkörper“ ist schon von draußen trotz seiner filigranen Anmutung gut zu erkennen. Zwölf schlanke, nach oben leicht spitz zulaufende Messingstäbe ragen aus einer Stahlplinthe empor. Sie sind überlebensgroß und wiegen sich in sanftem Rhythmus in verschiedene Richtungen, aufeinander zu und voneinander weg, als würden sie sich gegenseitig anziehen und dann wieder abstoßen. Eine hochpräzise Choreografie, deren Plan verborgen bleibt. Man kann an wogendes Schilf denken, aber auch an einander widersprechende Empfindungen. Die Bewegungen sind klein, fast muss man sich erst darauf einlassen, bevor man die Schwingungen wahrnimmt. Der große „Hauchkörper“ steht nur zur Eröffnung in der Glashalle, die der Fragilität der Arbeit durch ihre Transparenz noch zuspielt, danach wird er in einem der hinteren Räume aufgebaut, da die Glashalle gründlich saniert wird.

Bereitschaft zum Einlassen und Zeit, um sanfte Veränderungen wahrzunehmen, braucht der Besucher, eiligen Freunden lauter Reize dürfte in Duisburg das Beste ent­gehen. Das gilt für die gesamte Werkschau.

Stäbe, die Fühler, aber auch scharfe Waffen sein können, ziehen sich durch ihr Werk

Zur Eröffnung wurde Horn als erste Künstlerin mit dem Wilhelm-Lehmbruck-Preis der Stadt Duisburg geehrt. Der mit 10.000 Euro dotierte Preis wird erstmals seit 2006 wieder verliehen. In der Begründung der Jury heißt es, Horn habe eine „eigene Poesie des Mechanischen“ entworfen. Bei genauerer Betrachtung erweist sich die Horn’sche Poesie jedoch als schillernd mehrdeutig, surreal, beunruhigend in ihrer Ambivalenz und verstörend in ihrer offenen (Auto)-Aggression. Die Schönheit in der Kunst Rebecca Horns hat immer ein zweites, erschreckendes Gesicht.

Plötzlich angriffslustig

Stäbe, die zarte Fühler, aber auch scharfe Waffen sein könnten, ziehen sich durch ihr gesamtes Werk: Die „Handschuhfinger“ von 1972 sind meterlange Verlängerungen der eigenen Finger, die sich gegen Zimmerwände strecken, gleichzeitig Berührung und gebührende Dis­tanz schaffen. Oder die „Pfauenmaschine“ von 1982, deren Kranz von Metallstäben sich plötzlich angriffslustig zum Rad aufbäumt, sodass man unwillkürlich einen Schritt zurücktritt. Auch die Pendel-Arbeiten mit Vogeleiern aus den 1990er Jahren weisen den Metallstäben eher quälende Folter-Assoziationen zu, die an Edgar Allen Poes „Die Grube und das Pendel“ erinnern. Eine ganz buchstäblich vergiftete Schönheit dagegen ist das berühmte „Schlangenklavier“ von 1995: In einer schwarzen Rinne schwappt sinnlich silbriges Quecksilber.

Während frühere Objekte noch häufig eine gewisse Distanz zum Sujet ausstrahlen und ihre Mechanik sehr handfest zeigen, wirken ihre neuesten Arbeiten esoterischer, viel sanfter und ihre Funktionsweise bleibt diskret. Zwei Objekte veranschaulichen exemplarisch die Bewegung weg von der Ironie zur versöhnlichen Geste, die auch das Pathos nicht scheut: Bei der Arbeit „Amore Continental“ von 2008 aktivieren meterlange Metallstäbe stockend eine alte Schreibmaschine mit den fünf Buchstaben „AMORE“, während hoch über der Maschine fünf Drähte mit jenen Buchstaben ragen, die in zitternde Bewegung geraten, was noch ausgesprochen komisch wirkt. Dagegen ist „Umschlungen in unendlicher Liebe“ von 2017 ein meditatives Objekt, das drei kreisrunde, verschieden große Messingringe langsam ineinander um ihre Achsen drehen lässt, jeweils in eigenen Geschwindigkeiten. Was immer neue Spielarten des scheinbaren Umschlingens und Umkreisens ergibt, aber niemals eine Berührung.

Rebecca Horn, Lehmbruck-Museum Duisburg, bis 2. April 2018