„So kann die Utopie einer besseren Bude aussehen“

DAS BLEIBT VON DER WOCHE Die Volksbühne ist nicht mehr besetzt, die Koalition offenbart nach der Tegel-Niederlage ein zweifelhaftes Verständnis von Demokratie, Zehntausende Briefwähler ärgern sich über eine verlorene Stimme, und Michael Müller kann keine Flughäfen

Zählt die verlorenen Stimmen!

Volksentscheid I

Geht man über die Sache einfach hinweg, wäre der Frust groß

Der Volksentscheid Tegel ist – auch ganz abgesehen vom Ergebnis – nicht gut gelaufen. Zehntausende, möglicherweise bis zu 100.000 BriefwählerInnen hatten den Stimmzettel für den Volksentscheid in den falschen Umschlag gesteckt, bestätigte Geert Baasen von der Landeswahlleitung am Dienstag der taz. All diese Stimmen wurden nicht gewertet – für die Betroffenen ein Ärgernis.

Im Netz entbrannte eine Diskussion: Sind die Berliner zu blöd, die Anleitung zur Briefwahl zu lesen? Oder war sie zu unklar formuliert?

Schaut man sich die Briefwahlunterlagen an, dann entdeckt man im Kleingedruckten zwar die Anweisung, man solle „die Stimmzettel in den blauen Stimmzettelumschlag legen“. In der bebilderten Kurzanleitung, an der sich viele sicher eher orientierten, reduziert sich das aber auf die Anweisung: „Stimmzettel in den blauen Stimmzettelumschlag legen“.

Nun kann „Stimmzettel“ sowohl Singular als auch Plural sein – viele haben denn auch nur einen Zettel in den blauen Umschlag gepackt. Blöd oder nicht ist dabei gar nicht mehr die Frage: Wenn eine so große Zahl von Menschen der Anleitung nicht folgen kann, hat die Landeswahlleitung Fehler gemacht.

Es ist zwar unwahrscheinlich, dass gerade bei den BriefwählerInnen, die ihre Zettel falsch abgegeben haben, die Mehrheiten völlig anders verteilt waren als im Rest der Stadt. Und selbst wenn, könnte sich das Ergebnis höchsten um einzelne Prozentpunkte ändern, die Mehrheit für die Offenhaltung des Flughafens bliebe bestehen.

Trotzdem ist es wichtig, jetzt aufzuklären: Wie viele waren es genau, die den Zettel falsch eingetütet haben? Und wie hätten sie abgestimmt? Wurden ihre Stimmen gar nicht gewertet – oder teilweise doch den ungültigen Stimmen zugeordnet, was die hohen Zahlen in einzelnen Briefwahllokalen nahelegen?

Geht man über die Sache einfach hinweg, würde das für viel Frust sorgen. Es wäre ein Zeichen: Die verlorenen Stimmen sind uns nicht so wichtig. Man müsste sich dann nicht wundern, wenn sich Menschen an der nächsten Wahl gar nicht mehr beteiligten. Das kann nicht im Sinne der Landeswahlleitung sein. Antje Lang-Lendorff

R2G als schlechter Verlierer

Volksentscheid II

Der Senat muss nach dem Volksentscheid versuchen, Tegel offen zu halten

Erst mal die Fakten: Ich war für die Schließung von Tegel, ich habe mit Nein gestimmt beim Volksentscheid. Und ich bedaure, dass es anders gekommen ist. Aber ich nehme das hin – genauso wie ich erwarten würde, dass die Offenhalter akzeptierten, wenn es andersherum ausgegangen wäre. Nur so funktioniert Demokratie, und bislang dachte ich, dass auch R2G diese Sicht teilt.

Seit der Parlamentssitzung am Donnerstag aber habe ich da so meine Zweifel: Da betonten Politiker von SPD, Linkspartei und Grünen immer wieder, wie viel man doch noch aufgeholt habe. Dabei ist das völlig irrelevant für die Gültigkeit des Ergebnisses. Und weil die ungeliebte FDP treibende Kraft war, sollen sich plötzlich Parteien – von denen das Grundgesetz sagt, sie „wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“ – von Volksbegehren fernhalten müssen.

Unerträglich war es, am Donnerstag mitanhören zu müssen, wie SPD-Fraktionschef Raed Saleh nur den Gegnern der Offenhaltung das Attribut „ehrlich“ zugesteht. Was sind denn die anderen, deren Position am Sonntag 991.832 mit Ja Stimmende teilten? Man kann nicht direkte Demokratie ausbauen und dann erschrecken, wenn die große Masse der Abstimmenden plötzlich nicht so schlau ist, wie man selbst zu sein meint.

Senat, R2G, der Bund für Umwelt und Naturschutz, alle Gegner einer Offenhaltung, sie haben es einfach nicht geschafft, mit Argumenten das zu bekommen, was man in einer Demokratie braucht: eine Mehrheit.

Und darum muss der Senat jetzt das tun, was ihm der Volksentscheid vorgibt: alles versuchen, Tegel offen zu halten. Spricht geltendes Recht dagegen, muss er eine Gesetzesänderung anleiern. Ob die nicht an den Volksentscheid gebundenen Parlamentsfraktionen von R2G sie dann annehmen, ist eine andere Frage.

Da darf es auch keine Einschränkungen geben, wie sie am Donnerstag erneut anklangen: zu risikoreich, zu klagebehaftet, zu teuer – all diese Risiken waren vor dem Volksentscheid bekannt.

Es gibt in einer Gewaltenteilung klare Regeln: Das Parlament – oder hier alle Berliner, die abstimmen gingen – gibt etwas vor, die Regierung setzt um, die Judikative prüft, ob alles rechtens ist. Eine Regierung, die sich darüber hinwegsetzt, macht nicht mehr und nicht weniger, als zu putschen. Stefan Alberti

Macht den BER endlich auf!

Volksentscheid III

Man könnte denken, es ist einfach wie verhext in Sachen Airports und Müller

Dass Michael Müller Flughäfen einfach nicht kann, ist seit dem vergangenen Sonntag eine Gewissheit. Der Regierende Bürgermeister und sein Senat haben eine krachende Niederlage beim Volksentscheid „Pro Tegel“ einstecken müssen. Ein Ausrutscher war das nicht: Als Stadtentwicklungssenator war Müller 2014 ein Gleiches passiert, als er die Abstimmung über das Tempelhofer Feld verlor. Beim dritten Airport schließlich können Müller und sein Adlatus, Flughafenchef Lütke Daldrup, bis heute nicht sagen, wann der BER eröffnet.

Nun könnte man denken, es ist einfach wie verhext in Sachen Airports und Müller. Obwohl er wie hier bei Tegel alle vernünftigen Argumente auf seiner Seite zu haben schien, ist ihm die Mehrheit der Berliner nicht gefolgt – jedoch den populistischen Tegel-muss-bleiben-Parolen von FDP, CDU und AfD.

Wenn der Regierende Bürgermeister nun die Stimmungsmache samt der Falschmünzerei zum entscheidenden Faktor seiner Niederlage in Tegel erklärt, liegt er nur teilweise richtig. Das Offenhalten-Votum hat Müller auch selbst zu verantworten.

Viel zu spät, erst nach dem Sommer, hat er aktiv Stellung bezogen. Und wieder, wie schon in Tempelhof, haben Michael Müllers (und Katrin Lompschers) Stadtentwicklungs- und Nachnutzungsofferten die Berliner nicht überzeugen können. Doch genau dies hätte es gebraucht – statt kleinmütiger Stadtideen zum Wohnen in Klötzchen neben Zukunftsparks und Forschungseinrichtungen. Wer will das? Hinzu kommt, dass Müller und sein Senat beim Thema Wohnungsbau bisher wenig glaubhaft agieren, fehlen doch Zigtausende Wohnungen in Berlin.

Wie weiter jetzt? Der Regierende darf den Volksentscheid weder ignorieren noch politisch die Seite wechseln, also für den Weiterbetrieb Tegels sein, noch den Fluglärm kleinreden. Auch kann er sich nicht hinter Rechtsgutachten, dem Bund oder Brandenburg verstecken. Doch liegt nicht genau in diesem Dilemma eine zweite Chance, die darin bestünde, zu überzeugen und noch morgen einen Eröffnungstermin für den BER festzusetzen sowie die Ärmel für ein wirklich großes und zukünftiges Stadtmodell in Tegel hochzukrempeln? Alles andere führt zu Müllers Absturz.

Rolf Lautenschläger

Der eine Fehler der Besetzer

Besetzung DER Volksbühne

Die Besetzer fanden in Rot-Rot-Grün nicht die Beschützer, die sie sich erhofft hatten

Vier Tage lang haben die Besetzer der Volksbühne alles richtig gemacht. Sie sind am Freitag vor acht Tagen so umsichtig wie möglich in das Traditionshaus am Rosa-Luxemburg-Platz eingestiegen, haben es mehr als ein Wochenende lang mit Performances und Partys erfolgreich bespielt. Sie, die sich Künstlerkollektiv „Staub zu Glitter“ nennen, haben ein politisches Ziel artikuliert: Kampf gegen die Verdrängung und gegen den Ausverkauf der Stadt und der Kultur.

Sie haben das Gemeinsame, das Offene in den Vordergrund gestellt, Übernachtungen und Volksküche organisiert. Sie haben sich nicht kirre machen lassen durch arrogante Kommentare biederbürgerlicher Medien. Sie sind überhaupt nett mit allen Leuten, die vorbeikamen, umgegangen. So kann eine Utopie von einer besseren Welt, besseren Stadt oder einfach nur besseren Bude aussehen.

Doch dann, als alles so gut lief, haben die Besetzer einen großen Fehler gemacht. Sie haben verkannt, wie bedeutsam, wie wirkungsvoll ihre Besetzung war. Deswegen ließ Volksbühnen-Intendant Chris Dercon in Abstimmung mit Kultursenator Klaus Lederer (Linke) am Donnerstag das Haus räumen.

Es klingt gegenüber den Besetzern gemein. Aber Dercon, Lederer, der rot-rot-grüne Senat konnten nicht anders, nachdem die Besetzer absurderweise auf das weitreichende Angebot der Volksbühne vom Dienstag, künftig den Grünen Salon nutzen zu dürfen, gar nicht erst eingegangen waren. Denn Rot-Rot-Grün und der Volksbühnen-Chef stehen mit dem Rücken zur Wand.

Dercon muss endlich – nachdem ihn die etablierte Kulturpresse zwei Jahre lang fertiggemacht hat – zeigen, dass er aus dem Haus etwas machen, dass er es als Theater nutzen kann. Für den Auftakt Anfang November muss in der Volksbühne geprobt werden können; mit Besetzern im Nacken, so lieb sie auch sein mögen, fühlt sich das unfrei an.

Der Senat ist nach der Niederlage beim Volksentscheid Tegel am Sonntag massiv politisch unter Druck, im Fall der Volksbühne vor allem Klaus Lederer. Er mag zwar Dercon nicht, muss ihn aber qua Amt schützen. Und er mag zwar die konservative Opposition aus CDU, FDP und AfD nicht. Aber sich von ihr vorführen zu lassen als jemand, der nicht handelt – das wollte der Linksparteipolitiker nicht riskieren.

So fanden die Besetzer am Ende in Rot-Rot-Grün nicht die Beschützer, die sie sich erhofft hatten. Ihre Utopie stand gegen die politische Realität in dieser Stadt. Das ist schade, für beide Seiten. Und es wird eine Weile dauern, bis diese Wunden verheilt sind. BERT SCHULZ