Heizkraftwerk-Schornsteine undicht: In Wedel regnet es Gips

Die Schornsteine des alten Heizkraftwerks Wedel spucken Gipsregen in die Nachbarschaft. Initiative fürchtet Gesundheitsgefahren und fordert Abschaltung

Kraftwerk Wedel: Aus diesen Schornsteinen rieselt fieses Zeug Foto: Miguel Ferraz

WEDEL taz | Akuten Handlungsbedarf sieht Robert Habeck nicht. Über weitere Maßnahmen zur Minderung des Partikelregens, der regelmäßig über die Anwohner des Heizkraftwerks Wedel niedergeht, werde bis Anfang Oktober entschieden, kündigte Schleswig-Holsteins grüner Umwelt- und Energieminister am Donnerstag in einem ­Schreiben an die dortige Bürgerinitiative „Stopp. Kein Megakraftwerk in Wedel“ an. Zwar sei die Situation der Kraftwerksanwohner „nicht befriedigend“, räumte Habeck ein, jedoch sei nach ersten Analysen „keine Gesundheitsgefahr erkennbar“.

Seit einem Monat werden die Menschen im Wedeler Osten von Partikelregen aus den Schornsteinen des benachbarten Vattenfall-Heizkraftwerks behelligt. „Das verschmiert hier alles“, sagt Initiativen-Sprecherin Kerstin Lueckow, die in einem Reihenhaus mit Elbblick wohnt, 50 Meter Luftlinie vom Kraftwerk entfernt. „Terrassen, Wintergärten, Autos“, zählt sie auf, „man wacht morgens auf, und alles ist von einer ätzenden grauen Schicht bedeckt.“

Schon seit vorigem Jahr regnete Lueckow und ihren Nachbarn immer mal wieder Gips und Flugasche auf Köpfe und Gärten. Zur Sanierung hatte Vattenfall deshalb das Kraftwerk über den Sommer abgeschaltet. Eine Kalkeindüsung und zwei Aerosolabscheider, die Kleinstpartikel absondern sollen, wurden installiert, berichtet der Energiekonzern am 29. August 2017 in einer Anwohner-Information. Zusätzlich sei der Schornstein „mit einer Teflon-ähnlichen PTFE-Folie ausgekleidet“ worden. Vattenfall ist überzeugt, dass dies den Partikelregen nachhaltig vermindert.

„Seitdem ist es noch schlimmer“, sagt Kerstin Lueckow. „Früher konnte man das Zeug noch wegfegen, jetzt verklebt das alles.“ Vattenfall bedauert die damit „verbundenen Beeinträchtigungen“ außerordentlich. Doch leider sei es „bei einer Anlage dieser Bauart nicht möglich, Partikelausstoß ganz zu vermeiden“. Jedoch sei Besserung in Sicht. Die jetzt übergangsweise installierte Kalkhydrat-Anlage werde zum Dezember durch eine „maßgeschneiderte“ neue Anlage ersetzt werden, kündigt der Konzern an: „Unser Ziel bleibt die Minderung des Partikelaustrags und der dadurch entstehenden Belästigungen für Sie auf ein möglichst geringes Maß.“

Das Heizkraftwerk in Wedel wurde 1965 direkt an der Landesgrenze von Hamburg und Schleswig-Holstein in Betrieb genommen. Eigentümer waren die Hamburgischen Electricitäts-Werke AG (HEW), die inzwischen von Vattenfall übernommen wurden.

Bis 1987 trug das Kraftwerk ausschließlich zur Stromversorgung Hamburgs bei. Um es auch für die Wärmeerzeugung einsetzen zu können, wurden 1988/89 zwei Blöcke für Kraft-Wärme-Kopplung umgebaut.

Wedel versorgt etwa 240.000 Haushalte mit Strom und den größten Teil des Hamburger Westens mit Fernwärme.

Wedel hätte 2019 von einem modernen Gas- und Dampfturbinenkraftwerk am selben Ort ersetzt werden sollen. Das scheiterte am Widerstand von Bürgern und Umweltverbänden.

Die Betriebsgenehmigung für Wedel wurde deshalb bis 2022 verlängert. Über Ersatzkraftwerke will der Hamburger Senat noch in diesem Jahr entscheiden.

Am Samstag demonstriert die Initiative am 12 Uhr vor dem Kraftwerkstor, Tinsdaler Weg 146.

Kerstin Lueckow ist das inzwischen zu wenig. „Abschalten“, sagt die 50-Jährige, die seit 17 Jahren Kraftwerksnachbarin ist. „Bis der Fehler behoben ist, muss die Anlage abgeschaltet werden.“ Zwar kommt Vattenfall für die Einsätze von Reinigungsfirmen auf, auch gibt es Gutscheine für kostenlose Autowäschen in nahe gelegenen Tankstellen, doch das ist nicht das Wesentliche: Lueckow und ihre MitstreiterInnen misstrauen den Beteuerungen von Vattenfall und Kieler Umweltministerium, dass die Niederschläge gesundheitlich unbedenklich seien.

Gutachter bescheinigten, dass Erwachsene und auch Kinder „des benachbarten Wohngebietes durch den Auswurf keinen gesundheitlichen Gefährdungen ausgesetzt“ seien, sogar eine „orale Aufnahme der Partikel ist unbedenklich“. Kerstin Lueckow schüttelt den Kopf und präsentiert in Plastiktüten mehrere der grauweißen, millimeterdünnen und zwei, drei Zentimeter langen Stückchen. „Ich kann dem Minister ja was zum Knabbern anbieten, wenn er mal vorbeikommt“, sagt sie.

Die Initiative hat selbst einen Gutachter mit einer Untersuchung beauftragt. Und der legt den Anwohnern zumindest nahe, nach Kontakt mit den Teilchen die Haut gründlich zu waschen und die Augen auszuspülen. Sandkisten für spielende Kleinkinder sollten abgedeckt werden. Insgesamt sei das Material „nicht als unbedenklich einzustufen“, so das Gutachten.

Unabhängig von den Partikel-Emissionen verliert Umweltminister Habeck das große Ganze nicht aus den Augen. In seinem Schreiben an Kerstin Lueckow ruft er in Erinnerung, „dass nach dem erklärten politischen Willen der Landesregierung das Kohlekraftwerk Wedel schnellstmöglich abgeschaltet werden soll. Dies ist aus Gründen des Klimaschutzes dringend notwendig“. Das habe er gegenüber Vattenfall noch einmal deutlich gemacht. Zudem wolle er in Gesprächen mit Hamburg „zügig zu einer Lösung kommen, die ein Abschalten des Kohlekraftwerks ermöglicht“.

Denn nach dem Volksentscheid von 2013 wird Hamburg das Fernwärmenetz 2019 vollständig von Vattenfall zurückkaufen – und damit auch das alte Kohlekraftwerk Wedel. In der Umweltbehörde wird noch immer nach einer Ersatzlösung gesucht, im Dezember, so Behördensprecher Jan Dube, soll die Entscheidung fallen. Wo und wann dann ein neuer Energieofen für rund 450.000 Wohnungen entsteht, ist noch unklar. Bis dahin dürfte Wedel weiter Partikel regnen lassen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.