LeserInnenbriefe
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Tunten, Drags und trans*

betr.: „Kondome und Gleitgel mit Luthers Segen“, taz vom 10. 7. 17

Vielen Dank für den weitestgehend differenziert erstellten Bericht zum kommenden Berliner CSD in Bezug auf die Teilnahme der Evangelischen Kirche. Was ich an dem Artikel jedoch kritisieren muss, ist die Bezeichnung „Homosexuellen-Parade“. Dies trifft auf zwei Ebenen nicht zu und erzeugt den Ausschluss von Menschen.

Der Christopher Street Day wurde bei den Stone Wall Riots maßgeblich nicht von Homosexuellen, sondern von Tunten, Drags und trans* initiiert. Die Marginalisierung von trans*-Identitäten in medialen Diskursen sehe ich höchst kritisch und gerade Sie als breit rezipiertes Medium sollten sich Ihrer Diskursmacht in Bezug auf Sprache und damit das Denken der Gesellschaft bewusst sein. Zum anderen ist es keine Parade, sondern eine Demo. Es geht bei allen CSDs und Prides darum, marginalisierte Identitäten und Praktiken öffentlich zu performieren und damit Diskursverschiebungen zu erzeugen. So hatte der Kölner CSD vor einigen Jahren das Motto „Wir sind nur der rosa Karneval“, um damit den Vorwurf aber auch die mediale Darstellung, der CSD sei ja eigentlich lediglich eine ausschweifende Party und ein zweiter Karneval, zu ironisieren.

Ich würde Sie bitten, zukünftig von einer „Demo für die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt“ zu sprechen. Dieser Begriff ist zwar nicht so griffig, jedoch wesentlich differenzierter. So lief dieses Jahr beim Kölner CSD beispielsweise die trans*-Jugend mit schätzungsweise 50 Teilnehmenden mit. Auch beim Berliner CSD sind Menschen vertreten, die nicht cisgeschlechtlich und auch nicht homosexuell sind. JANNIS STEINKE, Köln

Der Kirche den Rücken zuwenden

betr.: „Der Katholiban von Köln“, taz vom 6. 7. 17

Wer sich in dieser Form, trotz des familienfeindlichen und nicht mehr zeitgerechten Zölibats, in die Familienpolitik einbringt, muss sich auch erhebliche Kritik an sich und seiner Person gefallen lassen. Ein Mensch, der sich vehement für die Politik der aktiven Eheverweigerung einsetzt, obwohl diese dem göttlichen Gebot der Vermehrung widerspricht, darf sich nicht wundern, dass mündige Bürger der Kirche gerade wegen Personen wie Meißner den Rücken zuwenden.

Des Weiteren hat gerade Kardinal Meißner die Frauen wegen der Abtreibungspille und dem Vergleich der Politik im Dritten Reich an den Rand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit gebracht, obwohl kein Mitglied des Klerus in diesen Diensträngen das Recht hat, wegen des mangelnden Bezugs zur Ehe an sich, Kritik an Frauen in Konfliktsituationen und wegen irgendeiner Indikation zu üben. Weiterhin hat gerade Meißner aufgrund seiner Meinung über Frauen im Priestertum erheblich in das von der Verfassung garantierten Recht zur freien Berufswahl eingegriffen. Um es mit einfachen Worten zu sagen: Herr Meißner hat den Frauen in der katholischen Kirche Berufsverbot erteilt. Mit der Ablehnung der gesamtchristlichen Ökumene hat er, wie viele Autokraten auf der politischen Ebene auch, erheblich zu einer sakralen Polarisation beigetragen. GEORG DOVERMANN, Bonn

Leben ohne Handy

betr.: „Zeitgenössische Amnesie“, taz vom 5. 7. 17

Silvester 1986 musste ich bis zum Nachmittag in Bad Wildungen arbeiten und wollte danach meine damalige, aus Stuttgart kommende Freundin am Kasseler Hauptbahnhof abholen, um zusammen mit dem Auto nach (West-)Berlin zu fahren. Kurz vor Feierabend fiel mir ein, dass es einfacher gewesen wäre, sich in Göttingen zu treffen. Dazu hätte sie in Frankfurt nicht, wie geplant, umsteigen, sondern im Intercity sitzen bleiben müssen. Aber wie kommunizierte man das in Zeiten ohne Mobiltelefonie? Als häufiger Bahnfahrer besaß man damals ein Kursbuch, in dem nicht nur die Verbindungen, sondern auch die Telefonnummern der Hauptbahnhöfe aufgeführt waren. Ich rief also in Frankfurt an, ob man die Frau ausrufen könne. Könne man.

Frankfurt ist ein Kopfbahnhof, die Züge halten also länger als woanders. Meine Freundin wurde ausgerufen, sie möge sich am Infoschalter Gleis 10 melden. Dort teilte man ihr mit, sie möge wieder in den bisherigen Zug steigen und bis Göttingen fahren.

Ich rief noch mal in Frankfurt an, ob das geklappt habe, und machte mich auf den Weg nach Göttingen. Pünktlich um neun liefen wir zur Silvesterfete in Berlin ein. Und das ohne Handy! ERNST SOLDAN, Norderstedt

Unselbstständig und hilflos

betr.: „Zeitgenössische Amnesie“, taz vom 5. 7. 17

Wenn man die Sache ernsthaft durchdenkt, mutet es beinahe surreal an, wie unselbstständig und hilflos der Homo sapiens von heute ist. Beobachtet man Menschen jeglichen Alters, meint man, dass keine Zeit vor der „digitalen Revolution“ existiert haben könne; zumindest zwischen 1945 und der Gegenwart herrscht ein (erinnerungstechnisch) schwarzes Loch, ähnlich dem dunklen Mittelalter. Menschen mit 50+ sind zu alltäglichen Handlungen nicht mehr in der Lage, ohne das Smartphone, das Netz und die großen Herrscher wie Google und Co zu konsultieren. Selbst die simpelsten alltäglichen Dinge werden abgegeben und damit fremdbestimmt. Die dabei versprochene, und mit dem Mammon erwirtschaftbare, Individualität wird in ihr Gegenteil verkehrt. Denn es entsteht eine Abhängigkeit, welche in ihrer Totalität mit geschichtlichen Vorläufern nur schwerlich zu vergleichen ist – wenige bestimmen die Algorithmen, die das Leben so vieler bestimmen. MARKUS MÜLLER, München