Dieses Stück gibt es nicht

Moskau Regisseur Kirill Serebrennikow in seltsamer Beweispflicht

„Ich habe ‚Ein Mittsommernachtstraum‘ schon zwei Mal gesehen, und am 6. Juli wird es das dritte Mal sein!“, schreibt Dmitri Sawinow auf Facebook. Dima Lokschin erinnert sich: „Ich war am 24. 11. 2012 in der Vorstellung. Ich habe die Theaterkarte und das Programmheft noch!“ Kirill Serebrennikow, der Intendant des Moskauer Gogol Center, hatte öffentlich um diese Zeugenschaft gebeten, denn ein Moskauer Kreisgericht hatte am 21. Juni die Existenz der Inszenierung bestritten. Alexei Malobrodski, der frühere kaufmännische Leiter des „Siebten Studios“, das in das Gogol Center übergegangen ist, sitzt in Untersuchungshaft. Ihm wird vorgeworfen, dass es „Plattform“, ein interdisziplinäres Format des „Siebten Studios“, nie ge­geben habe.

„Plattform“ wurde von 2011 bis 2014 staatlich gefördert. Aus der Leugnung der Existenz dieses künstlerisch ambitionierten Versuchs zur Neuauslotung von Sprech- und Musiktheater ergibt sich der Vorwurf, Alexei Malobrodski habe staatliche Gelder veruntreut. Über dreißig Premieren gab es im Rahmen von „Plattform“ jährlich. „Ein Mittsommernachtstraum“ von Shakespeare wurde seit 2012 über fünfzehn Mal gespielt – in Moskau, in Petersburg und in Paris. Der Staatsanwalt, der bestreitet, dass es diese Inszenierung überhaupt gab, hat im Prinzip vom 3. bis 8. Juli die Möglichkeit, sich vom Gegenteil zu überzeugen, er muss einfach nur eine Vorstellung besuchen. Rezensionen wurden im Gerichtssaal als Beweismittel nicht akzeptiert, denn „schreiben kann man viel“. Der Vorsitzende des Verbands der Theaterschaffenden Russlands, Kaljagin, wurde als Zeuge nicht akzeptiert.

So hat sich Kirill Serebrennikow, der international bekannte Film- und Theaterregisseur, über Facebook an die Zuschauer gewandt, und die Menschen bezeugen nicht nur, dass sie in der Vorstellung waren, sie beschreiben ihr ganz spezielles Theater­erlebnis. Am 28. Juni haben sich nach einem Aufruf von Sere­brennikow und der bekannten Theaterkritikerin Marina Dawidowa viele Theater in Russland mit Alexei Malobrodski solidarisiert – im Zuge einer kollektiven Kampagne in den sozialen Medien und in den Theatern nach der Vorstellung. In der Boulevardzeitung Komsomolskaja Prawda gab es ein großes Interview mit Serebrennikow, in dem die Bezeichnung „kafkaesk“ auftauchte. Marina Dawidowa schreibt: „Der Mechanismus ist jetzt da. Es kann jeden treffen.“ Der Staat geht über zur direkten Konfrontation gegen Künstler und ihre Freiräume.

Katja Kollmann