Mal wachküssen

Debatte Feuilleton in Echtzeit: Zum 5. Mal fand in Köln das Festival der Philosophie statt

„Und gehst du noch woanders hin?“ Immer wenn man das in Köln gefragt wird, ist ein Festival. Mal geht’s um Pop, mal um Literatur, ein anderes Mal um eins dieser Veedelsfeste. Diesmal geht’s um die fünfte Ausgabe der Philcologne. Obwohl das Wetter wundervoll ist, trifft man viele Bekannte – vom Lokalpolitikbeobachter bis zum Toningenieur. Denn ein „Festival der Philosophie“ ist die Philcologne nicht, eher eine Art Debattenfeuilleton in Echtzeit.

Gleich zu Beginn blieb die Debatte erst mal aus. „Quo vadis, Europa?“, lautete die Frage und als Antwort bekam der vollbesetzte Saal drei Kurzreferate präsentiert. Der CDU-Politiker Karl Lamers, Miterfinder des „Europas der zwei Geschwindigkeiten“, hielt eine Rede über die Rolle Europas in der „einen Welt“, die nur Allgemeinplätze zu bieten hatte. Interessanter war der Vortrag von Lamers ehemaliger Mitarbeiterin Ulrike Guérot, der er am ersten Arbeitstag „Schreiben Sie doch mal etwas zu Europa“ aufgetragen hatte. Das hat sie dann auch getan und die Politologin hielt ein begeistertes Plädoyer für die Neugründung für Europa als Republik. Jeder und jede Europäer*in solle mit einer Stimme ein Europäisches Parlament wählen, die Nationalstaaten werden abgeschafft und stattdessen sind in einer zweiten Kammer die Regionen vertreten. Sozialversicherung, Umsatz- und Einkommensteuer werden europaweit vereinheitlicht – welche Bewegung diese Neugründung vornehmen soll, warf Guérot jedoch nicht auf.

Claus Leggewie hatte dagegen zumindest einen Politiker gefunden, der für ihn die Hoffnung Europas verkörpert: Emmanuel Macron. Seine Wahl habe dazu geführt, dass „die Landkarte Europas neu vermessen werde“. Er sei damit ein Symbol für eine Veränderung in Europa, das sich sozialdemokratisch im Zeichen des Klimawandels erneuern müsste und Loyalitätskonflikte durch transnationale Staatsbürgerschaft lindern könnte.

Auch der französische Dschihadismusforscher Gilles Kepel freute sich über die Wahl Macrons. Kepel stellte seine Thesen zum „Terror in Frankreich“ vor, die für eine Kontroverse mit dem Islamforscher Olivier Roy gesorgt hatten. Sorgfältig führte Kepel aus, warum der dschihadistische Terror aus den Banlieues nur wenig mit der RAF gemein hat, weil die jungen Dschihadisten nicht gegen ihre faschistische Elterngeneration protestieren. Ihr Weltbild sei dem identitären Nationalismus des Front National viel näher, habe aber seinen Ursprung im saudi-arabischen Wahhabismus, der unter den sozial abgehängten und oft vaterlos aufgewachsenen Dschihadisten in Frankreich auf gewalttätige Resonanz stoße. Kepel trug dies im Stil des in Würde gealterten französischen Intellektuellen vor: ausschweifend, bedacht und mit zurückhaltendem Witz.

Lippen unter Strom

Tristan Garcia, Philosophiedozent aus Lyon, kultivierte bei seinem Auftritt am Samstag dagegen den AStA-Look: halblange Haare, Schlabberpulli, Chinos. So stellt man sich niemanden vor, der „Das intensive Leben“, so der Titel seines aktuellen Essays, authentisch verkörpert. Darum geht es Garcia auch nicht. Er betreibt Begriffsgeschichte. Und die lässt er in den Salons von Leipzig in den 1740er Jahren beginnen. Georg Mathias Bose, laut Garcia „kein besonders guter Dichter und Physiker“ sorgte damals mit dem „Leipziger Kuss“ für Aufsehen. Eine junge Frau wird mit einem primitiven Generator verkabelt. Auf ihren Lippen trägt sie eine stromleitende Flüssigkeit, und sobald sie geküsst wird, funkt es. Derart mit Spannung aufgeladen, wird die Intensität in den Folgejahrhunderten zum Leitbild gegen die bourgeoise Langeweile, bis sie nach dem „Summer of Love“ und den Gegenkulturen der 1970er zur Norm wird, wie Garcia ausführt. Im 21. Jahrhundert ist die Verheißung auf Identität allgegenwärtig: in der Werbung ebenso wie in dschihadistischen Traktaten.

Garcia will diese Intensität retten. Zum einen vor einem „Verlust durch Erschöpfung“ und zum anderen vor einer reaktionären Rückkehr zu „ewigen Werten“ wie Wahrheit oder Weisheit. Dafür will er einen Raum eröffnen, der frei vom intensiven Leben ist. Für ihn ist es der Schreibtisch: „Ich schreibe dann Romane“, verrät er seine persönliche Strategie. Und die Philosophie solle sich wieder um Identität bemühen.

Das tat die Philcologne dann auch am Sonntag. Zu Gast war Armin Nassehi, Soziologieprofessor „mit Gelsenkirchener Abitur“, der die Rolle des öffentlichen Soziologen in den deutschen Medien ausführt. Im Gespräch sprang er dann auch zwischen persönlicher und kollektiver Identität, der identitären Bewegung und den Minderheitenpolitiken an ­US-Colleges hin und her. Die hohe Bedeutung von Identität sei Ausdruck einer Krise. „Es geht darum, Komplexität zu reduzieren“, erklärte er und fügte hinzu: „Ich bin halt Systemtheoretiker.“ Kurzes Lachen. Zumindest seine Identität dürfte damit geklärt sein.

Christian Werthschulte