„Mit der Lösung hat sich der Senat für einen richtigen Mittelweg entschieden“

Das bleibt von der Woche Michael Müller zieht die 100-Tage-Bilanz seiner rot-rot-grünen Regierung, das Neutralitätsgesetz sorgt wieder für Diskussionen, der Landesbetrieb für Flüchtlingsheime übernimmt die erste Unterkunft, und es gibt überraschende Wendungen für Dragoner-Areal und Neues Kreuzberger Zentrum

Die Ampel zeigt Rot, Rot … Grün!

100 Tage neue Koalition

Vielen SenatorInnen merkt man die Lust am Machen, am Regieren deutlich an

Die neue Koalition hat sich etwas Zeit gelassen mit ihrer 100-Tage-Bilanz. Als der Regierende Bürgermeister am Mittwoch die erwartete Lobelei der eigenen Arbeit und die seiner neuen SenatskollegInnen vortrug, war Rot-Rot-Grün schon mehr als 130 Tage im Amt. Ob diese Verzögerung schlimm ist, sei erst mal dahingestellt. Sicher ist sie symptomatisch.

Schließlich waren die Erwartungen an das Bündnis aus SPD, Linkspartei und Grünen groß nach dem fünfjährigen Debakel mit der „Großen“ Ko­alition. Doch nur wenige davon – und nicht die positiven – hat Rot-Rot-Grün schnell erfüllt: Im Vorfeld war lange darüber diskutiert worden, ob die drei zwar alle irgendwie linken, aber ansonsten ungleichen Partner eine gemeinsame Sprache finden würden. Sie tun sich bis heute, sagen wir, schwer damit: Dass es mit den Streitigkeiten – wie die durchaus koalitionsgefährdende über Staatssekretär Andrej Holm –, „gleich so losgeht“, hätte sie auch nicht gedacht, bekannte die grüne Wirtschaftssenatorin Ramona Pop diese Woche im taz-Interview.

Bis hingegen klar ist, ob sich die vielen inhaltlichen Erwartungen an Rot-Rot-Grün erfüllen werden, wird es ein bisschen länger dauern. Das zeigt sich etwa bei dem für März angekündigten wichtigen Radgesetzentwurf, der nun eher zu Sommerbeginn vorliegen dürfte.

Immerhin merkt man vielen neuen (und einigen wieder ernannten) SenatorInnen die Lust am Machen, am Regieren und das Fehlen der Dauerbremser von der CDU deutlich an. Vor allem SPD-Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen und die Linkspartei-Riege tun sich da hervor. Das ist keine schlechte Grundlage für die Einjahresbilanz von R2G – auch wenn die dann wohl erst in zwei Jahren vorliegt. Bert Schulz

Es bleibt verdammt kompliziert

Neutralitätsgesetz

Kann man mit ­Kopftuch also nicht ­integriert und ­emanzipiert sein?

Kann eine Lehrerin mit Kopftuch neutral sein gegenüber anderen Religionen und Weltanschauungen? Kann sie Vorbild für muslimische Mädchen sein? Nein, findet der Berliner Grundschulverband, und warnte daher diese Woche in einem offenen Brief an den Senat vor einer Abschaffung des Berliner Neutralitätsgesetzes. Selbiges verbietet LehrerInnen (wie auch PolizistInnen und AnwältInnen) das Tragen von religiösen und weltanschaulichen Symbolen im Dienst – ob nun den sichtbaren Kreuzanhänger an der Halskette oder das Kopftuch. Das Neutralitätsgesetz will also für einen Sicherheitsabstand zwischen Staat und Kirche sorgen. Das muss man theoretisch gut finden. Die Praxis ist komplizierter.

Kopftuchgegner wie die UnterzeichnerInnen des offenen Briefs – darunter auch ein ehemaliger Gewerkschaftsvorsitzen­der und eine Schulleiterin – argumentieren: Das Kopftuch steht für eine Ungleichbehandlung der Geschlechter. Eine Klassenlehrerin mit Kopftuch müsse ein Negativvorbild für muslimische Mädchen sein und verhindere im Zweifel, dass die Schülerinnen „sich selbst emanzipieren oder vor einer reaktionären Einflussnahme durch z. B. fundamentalistische Kräfte wehren wollen“.

Wieso sollen wir nicht ebenso neutral sein können wie jemand, der seine Kreuzkette vor Schulbeginn unterm Hemdkragen versteckt?, wehren sich muslimische Lehrerinnen, und fühlen sich diskriminiert. Zu Recht, sagen die Gerichte: Zuletzt hatte das Landesarbeitsgericht im Februar einer Klägerin recht gegeben, die sich bei einem Einstellungscasting für GrundschullehrerInnen benachteiligt sah – sie wurde wegen ihres Kopftuchs abgelehnt.

Das ist das Problem mit dem eigentlich guten Neutralitätsgesetz: Im Alltag betrifft es vor allem eine konkrete Gruppe, und zwar kopftuchtragende Musliminnen. Das ist dann diskriminierend, ja. Aber weil man eben nicht so genau weiß, ob Lehrerinnen mit Kopftuch den Schülerinnen nun ein schlechtes oder vielleicht auch gerade ein gutes Vorbild sind – die Schülerinnen selbst kommen in dieser Debatte nur selten zu Wort –, argumentieren sich die Kopftuchgegner schnell in die Defensive. „Integrierte, emanzipierte muslimische Lehrerinnen sind für die Berliner Schulen von großer Wichtigkeit“, heißt es in dem offenen Brief. Kann man mit Kopftuch also nicht integriert und emanzipiert sein?

Dabei ist die eigentliche Frage ja: Was wiegt schwerer, der Sicherheitsabstand zwischen Kirche und Staat oder das Diskriminierungsverbot? Es ist kompliziert. Anna Klöpper

Ein bisschen Staat kann schon helfen

Flüchtlingsheime

Damit hat sich der Senat für einen ­richtigen Mittelweg entschieden

Jetzt macht es also wieder der Staat selbst. Ein bisschen jedenfalls. Am Mittwoch hat der neu gegründete Landesbetrieb für Flüchtlingsheime seine erste Unterkunft übernommen. Drei soll er insgesamt leiten.

Ein richtiger Schritt, nachdem sich das Land Berlin im Herbst 2016 in der schizophrenen Situation befand. Endlich waren die lange angekündigten dauerhaften Unterkünfte fertig – und doch konnten die Flüchtlinge nicht aus der notdürftigen Turnhallenunterbringung raus, weil es keinen Betreiber gab. Bei Ausschreibung und Vergabe waren Fehler passiert, das Ganze musste langatmig wiederholt werden. Nur ein Kunstgriff über eine Notlage gemäß Polizeigesetz half weiter. Ein Landesbetrieb kann in solchen Fällen ohne Ausschreibung einspringen.

Der rot-rot-grüne Senat hat sich dazu grundsätzlich festgelegt: Der Betrieb sozialer Einrichtungen gehöre zu den Kernaufgaben des Staats. Wenn daraus nun abzuleiten wäre, dass das Land jetzt alles selbst macht und nichts mehr delegiert, wäre das nun genau falsch, wie der bisherige Weg, sich komplett rauszuhalten.

Entscheidend sind wie immer die Umstände. Ideologische Grundsätze helfen zumindest den Betroffenen – hier den Flüchtlingen –, nicht weiter. Beim Thema Flüchtlingsheime hat der vormals rot-schwarze Senat schlicht zu lange ignoriert, dass er sich erpressbar gemacht hatte. Die Senatsverwaltung für Soziales musste mangels Alternativen selbst mit verrufenen Unternehmen zusammenarbeiten. Das aber ist der zentrale Punkt beim Delegieren: Ohne Auswahlmöglichkeiten lassen sich zwar Vorgaben machen und auch kontrollieren, Verstöße aber nicht wirksam bestrafen.

Mit der jetzigen Lösung hat sich der rot-rot-grüne Senat für einen richtigen Mittelweg entschieden: weiter auf kirchliche und sonstige karitative sowie andere private Anbieter zu setzen, über ein eigenes Unternehmen aber schnell eingreifen zu können. Nicht nur, wenn plötzlich wieder die Zahl der Flüchtlinge steigt, sondern schon dann, wenn es Beschwerden über Unterkunftsbetreiber gibt.

Anders als früher kann der Staat ab jetzt glaubhaft drohen: Mach deinen Job ordentlich, genau wie es in deinem Vertrag steht, sonst bist du draußen.

Stefan Alberti

Kreuzberg wird wieder Stadtlabor

Wohnungspolitik

Dem grünen Baustadtrat Florian Schmidt fällt eine Schlüsselposition zu

Kreuzberg, das war schon immer etwas Besonderes. In den 70er Jahren wurde rund um das Kottbusser Tor der flächendeckende Abriss von Altbauten gestoppt, hier wurden die be­hutsame Stadterneuerung und die Bürgerbeteiligung erfunden. Auch dass sich nie jemand mit dem Erreichten zufriedengab, gehört zur Kreuzberger Besonderheit.

Während in den 90er Jahren kurzfristig Prenzlauer Berg und Friedrichshain den Kreuzbergern den Rang abzulaufen drohten, kehrt der südliche Teil des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg nun wieder zurück auf die Pole Position – als neues Experimentierfeld und Stadt­labor für Mieten- und Wohnungspolitik.

Gleich zwei gute Nachrichten aus dieser Woche unterstreichen das. Zum einen bekommt Berlin das 4,7 Hektar große Dragoner-Areal vom Bund – und kann beweisen, wie eine neue Kreuzberger Mischung aus Arbeiten und bezahlbarem Wohnen geschaffen werden kann.

Zum Zweiten verstrich am Donnerstag die Frist, innerhalb deren sich der Investor „Juwelus“ hätte melden können, um das Neue Kreuzberger Zentrum (NKZ) zu kaufen. Nun kommt die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Gewobag zum Zuge: Sie meldete am Freitag, dass sie sofort Gespräche führen will, um den bekannten Gebäudekomplex zu erwerben.

Zwei Erfolge, die eines gemeinsam haben. Mit der Übertragung der einen Liegenschaft und dem bevorstehenden Kauf des Kreuzberger Zentrums durch die Gewobag haben nun Land und Bezirk alle Möglichkeiten, zu demonstrieren, dass sie tatsächlich einen anderen Weg in der Wohnungspolitik einschlagen. Bürgernah und sozial soll dieser Weg sein. Wie das im Einzelnen aussieht, wird sich in den kommenden Monaten und Jahren zeigen. Und auch ob eine landeseigene Wohnungsbaugesellschaft den Erwartungen, die in sie gesetzt werden, gerecht werden kann.

Einem fällt dabei eine Schlüsselposition zu: dem grünen Baustadtrat Florian Schmidt. Einst selbst Aktivist, hat sich Schmidt ebenjenen bürgernahen und sozialen Wechsel in der Wohnungspolitik auf die Fahne geschrieben. Aber fordern ist das eine, das Umsetzen ist ungleich schwieriger. Auch Schmidt wird nun daran gemessen werden, ob er dem Kreuzberger Stadtlabor zum Erfolg verhilft. Uwe Rada