„Mensch, ist das groß hier“

Statement Fünf Menschen, die in Marzahn-Hellersdorf arbeiten und leben, erzählen über ihren Stadtteil im Wandel. Über gute und schlechte Nachbarschaft, die Lebensqualität zwischen viel Grün und Plattenbauten

Ich habe meine Jugend in Hellersdorf als sehr angenehm in Erinnerung. Mir hat es an nichts gefehlt

Am Anfang hatten die ­Menschen eine gewisse Scheu. Aber inzwischen gibt es viel Interaktion

Ich weiß noch nicht, ob ich in Deutschland bleibe, wenn ich alt bin. Ich gehe vielleicht zurück nach Vietnam

Von Fabian Franke, Malene Gürgen
, Antje Lang-Lendorff
und Susanne Messmer
(Protokolle) und Sebastian Wells (Fotos)

"Hier geht es nicht nur ums Ernten"

Anna Juhnke betreut das Gartenprojekt Helle Oase. Seit fünf Jahren steht der Garten für Integration und Vernetzung in der Nachbarschaft – doch manchmal gibt es Probleme

„Es stimmt schon, dass der Stadtteil noch ‚sozialer Brennpunkt‘ ist“, sagt Anna Juhnke über Hellersdorf

Aus Hellersdorf bin ich erst 2004 weggezogen, als ich mein Studium begonnen habe. Meine Eltern wohnen übrigens heute noch dort. Ich habe meine Jugend im Stadtteil als sehr angenehm in Erinnerung. Mir hat es an nichts gefehlt. Heute wohne ich in Friedrichsfelde und fahre zur Arbeit nach Hellersdorf. Ich kenne noch immer alle Orte aus meiner Kindheit, arbeite sogar in dem Gebäude meines Kindergartens – das ist total schön.

Das Gartenprojekt Helle Oase haben wir 2012 gestartet. Wir hatten die leere Fläche gesehen und uns gedacht: „Hier müssen wir was machen!“ Nachdem wir mehrere Ideen gesammelt hatten, war im Oktober 2012 schon der erste Spatenstich. Im Frühjahr darauf haben wir losgegärtnert und den Spielplatz eröffnet – alles mit der Hilfe vieler Ehrenamtlicher aus dem Bezirk.

Diese sind auch heute noch das, was den Garten ausmacht. Jung und Alt, Renter*innen und Arbeitende – bunt gemischt. Man kann den Garten einfach betreten, es gibt keinen Zaun. Man kommt hier auch nicht nur her, um Möhren zu ernten. Unser Garten gibt aus verschiedenen Gründen gar nicht so viel her, dass man davon leben könnte. Und viele haben ja sogar einen eigenen Garten oder Balkon. Deswegen steht hier eher die Kommunikation im Vordergrund, weniger das Ernten.

Es stimmt schon, dass der Stadtteil noch „sozialer Brennpunkt“ ist. Allerdings kriege ich es im Alltag kaum mit, sondern merke es eher in der Jugendarbeit oder an kleinen Vorbehalten, die hier und da mal gegen Ausländer*innen geäußert werden. Und wir haben viel mit Vandalismus zu tun. Immer wieder ist etwas kaputt. Das lässt uns aber nicht am Projekt zweifeln.

Wir haben für diese Saison tolle Pläne, müssen nur schauen, wie wir sie umsetzen. Ende des Sommers läuft der Zwischennutzungsvertrag aus, und wir hoffen, dass er um ein paar Jahre verlängert wird. Diese Unsicherheit macht uns manchmal ein bisschen hilflos. Aber bis dahin lassen wir uns nicht beirren. Wir sind eine tolle Gruppe und merken, dass Integration und das Miteinander hier sehr gut funktionieren.

Anna Juhnke, 32, vom gemeinnützigen Verein Kids & Co, der den Garten koordiniert

"Eine zwiespältige Sache"

Luisa Seydel hat was gegen Klischees – und gegen Nazis. Sie hat 2013 die mehrfach ausgezeichnete Initiative Hellersdorf hilft mitgegründet

Luisa Seydel Foto: picture alliance

In meiner Jugend habe ich Marzahn-Hellersdorf, wo ich geboren und aufgewachsen bin, immer verteidigt. Wenn man sagt, dass man von dort kommt, bekommt man ja sofort Klischees an den Kopf geknallt. Sofort wirst du stigmatisiert. Da habe ich immer gegen angeredet, denn ich bin dort wirklich gern aufgewachsen: Es gibt gerade für Kinder und Jugendliche total viele Angebote, Sachen, die man umsonst machen kann. Als ich 14 war, habe ich angefangen mich selbst in den Kinder- und Jugendeinrichtungen zu engagieren.

2013 hat sich alles geändert. Die rassistischen Proteste gegen das Flüchtlingsheim begannen, ein paar andere Leute und ich haben als Gegenreaktion „Hellersdorf hilft“ gegründet. Plötzlich wurden wir auf offener Straße angefeindet. Wenn wir mit Flüchtlingskindern unterwegs waren, haben Leute uns vom Balkon mit Eiern beworfen. Das war ein Schock für mich, und ich habe gedacht: Das mache ich jetzt nicht mehr, ich verteidige diesen Bezirk nicht mehr. Ich habe Morddrohungen von Leuten bekommen, deren Kinder ich in den Jahren davor betreut habe! Das hat mich wirklich entfremdet, ich hatte überhaupt nicht mehr das Gefühl, dass dieser Bezirk mein Zuhause ist.

Heute, wo sich alles etwas beruhigt hat, sehe ich das ambivalent: Einerseits wird es nie mehr so sein wie vorher, das sage ich jetzt mal so, auch wenn es sich ein bisschen dramatisch anhört. Ich habe in diesem Bezirk die schlimmsten Ängste meines Lebens ausgestanden, meine Familie wurde bedroht. Das vergesse ich nicht.

Andererseits stimmt es natürlich wirklich: Es gibt nicht nur Nazis dort, es gibt auch unglaublich viele Menschen, die sich für Flüchtlinge engagieren, auch jetzt noch, wo das mediale Interesse längst weg ist. Wenn wir bedroht wurden, haben wir immer auch viel Unterstützung aus dem Bezirk erhalten. Wir wurden natürlich auch immer viel präsentiert, wenn es darum ging, das Image des Bezirks aufzupolieren.

Eine zwiespältige Sache. Denn die Verhältnisse schönreden, das mache ich nicht mit: Der Bezirk hat ein Rassismusproblem, und das wurde auch nicht irgendwie von außen reingetragen, das kommt von dort. Wenn man das ausspricht, bekommt man schnell einen Nestbeschmutzer-Vorwurf, aber darauf habe ich genauso wenig Lust wie auf dumme Klischees über den Bezirk.

Luisa Seydel, 25 Jahre alt, Studentin, gründete 2013 die Initiative Hellersdorf hilft

„Preiswert und schön"

Jochen Kramer leitet seit 15 Jahren das Stadtteilzentrum Marzahn-Nord. „Viele Menschen leben gerne hier“, sagt der Psychologe über seinen Kiez

Jochen Kramer

Das Image von Marzahn ist immer noch negativ, obwohl viel für eine Aufwertung getan wird. Die Lebensbedingungen hier sind nicht so schlecht. Viele Menschen leben gerne in Marzahn. Sie schätzen die gute Verkehrsanbindung, es gibt viel Grün. Und es entwickelt sich etwas: Parkanlagen wurden gestaltet, Fußwege verbessert. Eine ganze Reihe von Leuten ist wegen der hohen Mieten in der Innenstadt zu uns gezogen. Familien, aber auch Einzelne, die nicht so viel Geld haben. Die sagen, es sei preiswerter hier und schön.

Vor zehn Jahren hat man einen Teil der Häuser in Marzahn-Nord rückgebaut. Mehrere Stockwerke wurden abgerissen, die Häuser farblich gestaltet. Damals gab es einen größeren Leerstand. Heute könnten wir diese abgerissenen Wohnungen gut gebrauchen. Die Mieten sind im Vergleich immer noch niedrig. Doch ist es inzwischen nicht mehr so leicht, eine Wohnung zu finden.

Zu uns ins Stadtteilzentrum Marzahn-Nord, einem kleinen Plattenbau, kommen vor allem Ältere und Arbeitslose. Es gibt aber auch Familiennachmittage. Sportgruppen machen hier Gymnastik, wir organisieren Kulturveranstaltungen. Seit letztem Herbst kommen regelmäßig ehemalige Schlagersänger aus der DDR-Zeit und gestalten musikalische Nachmittage. Die älteren Bürger lieben das.

Auch unsere Schuldnerberatung ist sehr gefragt, vor allem bei Russlanddeutschen und zugewanderten Roma. In Marzahn-Nord wohnen etwa 20 Prozent Russlanddeutsche. Es gibt auch viele Vietnamesen. In der letzten Zeit sind außerdem Roma aus Polen zugezogen. Das ist ja oft so: Es kommen Erste an, dann ziehen andere nach. Es gibt jetzt eine Gemeinschaft von Roma, die in einem Block wohnen. Wir laden die verschiedenen Migrantengruppen auch ins Stadtteilzentrum ein, es gibt hier zum Beispiel gemeinsame Kochnachmittage.

Dass die IGA größere Auswirkungen auf den Stadtteil hat, kann ich mir nicht vorstellen. Es fährt ein Bus direkt dorthin, unsere Leute schauen sich das bestimmt an. Aber das hängt auch davon ab, wie teuer der Eintritt ist. Wir lassen gerade den Garten an unserem Haus schick machen, mit Klanggarten, Sportgeräten für alle Generationen und kleinen Pavillons. Kräuter- und Blumenbeete legen unsere Freiwilligen selber an. Da haben wir dann unsere eigene kleine IGA vor der Tür.

Jochen Kramer, 65, ist Psychologe und leitet seit 15 Jahren das Stadtteilzentrum Marzahn-Nord. Bald geht er in den Ruhestand

"Die Kunst hat sich festgesetzt"

Karin Scheel leitet seit acht Jahren die Kommunale Galerie M und findet, dass die Menschen in Marzahn deutlich selbstbewusster geworden sind

"Was sind das für Freiflächen und Sichtachsen!", sagen Künstler über den Bezirk, erzählt Karin Scheel

Immer mehr Künstlerinnen und Künstler interessieren sich für Marzahn-Hellersdorf. Viele von ihnen können sich die Ateliermieten in der Innenstadt nicht mehr zahlen. Andere kommen her, weil sie den Bezirk einfach spannend finden. Sie sagen: „Ist das groß! Was sind das für Freiflächen und Sichtachsen!“ So etwas finden sie in der Innenstadt, wo notwendiger Weise immer weiter verdichtet wird, natürlich immer weniger. Hier können sie noch viel mehr ausprobieren. Vor diesem Hintergrund bieten wir seit einigen Jahren auch Ateliers an – mit Unterstützung einiger Wohnungsbaugesellschaften.

Ich habe nach neun Jahren Arbeit in der Galerie M das Gefühl, dass sich das Thema Kunst auch in der Nachbarschaft fest gesetzt hat. Am Anfang hatten die Menschen eine gewisse Scheu, aber inzwischen gibt es viel Interaktion. Und das hängt, denke ich, auch damit zusammen, dass sich unsere ausstellenden Künstler immer mit dem befassen, was sie hier vor Ort finden.

Da gibt es zum Beispiel die Erstbezieher, die heute größtenteils Rentner sind. In dieser Bevölkerungsgruppe ist der Zusammenhalt nach wie vor groß. Im letzten Jahr hat der Künstler Stefan Demming bei uns in der Galerie M eine Videoinstallation auf Basis einer Serie des DDR-Fernsehens entwickelt, die „Einzug ins Paradies“ hieß und kleine Geschichten der ersten Bewohner Marzahns erzählte. Daraus hat Demming seine Rauminstallation mit dem Titel „Marzahner Oper“ gestaltet. Er hat ganz kleine Szenen geschnitten, sie dann geloopt und gesampelt. Das Ergebnis war eine sehr sorgfältige, berührende Arbeit. Und da kamen hier teilweise Nachbarn, die zu Tränen gerührt waren.

Der Künstler Maurice de Martin, um ein anderes Beispiel zu nennen, hat hier in den vergangenen drei Jahren immer wieder mit Menschen gearbeitet, die eigentlich gar keinen Bezug zur Kunst haben, um mit ihnen Ausstellungen zu gestalten. 2016 hat er mit ihnen ein Projekt entwickelt, das „Unholdt-Forum“ hieß. Die Geschichte dahinter: Hier im Bezirk wurde der Nachlass des dritten Humboldt-Bruders (Sein Motto: Erforscht Euch doch selbst!) gefunden. Das wurde dann am Ende in einer fast überbordenden Rauminstallation präsentiert. Es gab alles: Die ausgegrabene Kiste, Forschungsmate­ria­lien, das erste Schlauchboot. Die beteiligten Nachbarn waren mit unglaublichem Engagement dabei.

Im Sommer werden wir eine Ausstellung einer großen, internationalen Künstlergruppe zeigen, der World Anonymous Society, diese wird „Entartete Kunst“ heißen. Ich habe dieses Wort in Bezug auf unsere Ausstellungen und Projekte hier sehr selten gehört. Aber einige Male eben doch. Auch insofern ist mir dieses Thema wichtig.

Als wir hier angefangen haben, fragten die Künstler oft, warum in Marzahn die Straßen und Plätze so leer sind. Das ist heute nicht mehr so. Bei unser letzten Finissage war die Wiese vor der Galerie voll. Die Menschen hatten sich Decken und Thermoskannen mitgebracht. Sie okkupieren jetzt den öffentlichen Raum. Sie breiten sich aus. Das finde ich sehr gut.

Karin Scheel, 53, lebt in Friedrichshain, leitet die Galerie M in der Marzahner Promenade 46

"Die Nachbarn sind nett"

Thai Phan lebt seit 24 Jahren in Marzahn und wird nun kaum mehr angefeindet. Früher war es aber schlimm. Das versteht er bis heute nicht

Ist 1982 als Vertragsarbeiter in die DDR gekommen: Thai Phan

Ich wohne und arbeite seit 1993 in Marzahn. Ich finde es gut hier. Ich habe mich daran gewöhnt. Die Nachbarn sind nett.

Ich habe viele Freunde aus Vietnam, mit denen ich am Wochenende gern Ausflüge mache und spazieren gehe, um die Landschaft zu bewundern – bei schlechtem Wetter besichtigen wir Museen. Ich mag die Alte Nationalgalerie sehr gern. Zum vietnamesischen Tempel nach Spandau fahre ich eher selten, denn ich bin überhaupt nicht religiös. Ich habe mich auch mit einigen deutschen Kunden angefreundet. Sie kommen zu mir, um sich massieren oder die Nägel machen zu lassen. Leider sind die Leute in Marzahn in letzter Zeit sehr sparsam geworden. Die Umsätze brechen ein. Wahrscheinlich, weil 2015 die vielen Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind. Ich denke, viele Leute haben Angst.

Ich bin geschieden und habe zwei Kinder. Mein Sohn ist 18, wohnt bei seiner Mutter und geht noch zur Schule. Er ist ein sehr guter Schüler. Meine Tochter ist 27, lebt in Mannheim und arbeitet in der Verpackungsindustrie.

Ich fahre immer noch alle zwei Jahre nach Vietnam, um meine vier Geschwister und deren Familien zu besuchen. Ich bin in Saigon aufgewachsen, unsere Eltern waren Beamte, also waren wir eigentlich nicht so arm wie viele Familien damals. Trotzdem war die wirtschaftliche Situation sehr schlecht. Aber inzwischen entwickelt sich das Land. Viele Freunde von damals, die in Vietnam geblieben sind, sind jetzt besser dran als ich. Andere haben es aber auch zu weniger gebracht. Ich weiß noch nicht, ob ich in Deutschland bleibe, wenn ich alt bin. Meine Kinder werden sicher bleiben. Sie haben die deutsche Staatsbürgerschaft. Aber ich gehe vielleicht zurück nach Vietnam.

Ich bin 1982 als Vertragsarbeiter in die DDR gekommen. Damals war ich 22 Jahre alt. In Cottbus habe ich dann eine Ausbildung als Mechaniker gemacht. Nach der Wende wollte ich gern in Deutschland bleiben. Also kam ich 1992 nach Berlin und habe hier noch ein Jahr als Mechaniker gearbeitet. Damals habe ich gut verdient. Es war aber eine sehr schwere Arbeit. Ich hatte einen Bandscheibenvorfall und habe Arthrose bekommen. Heute kann ich nicht mehr lang stehen. Also habe ich mich selbstständig gemacht. Ich habe als Textilverkäufer gearbeitet, auf dem Markt, in der Gastronomie. Danach habe ich diesen Laden aufgemacht, das kann ich machen, weil meine Hände gesund sind.

In der Vergangenheit wurde ich öfter angefeindet. Aber das waren nur Kleinigkeiten. Jetzt ist schon lang nichts mehr passiert. Vor zehn Jahren haben sie mal meinen Laden mit ausländerfeindlichen Parolen beschmiert. Früher war es viel schlimmer. In den neunziger Jahren hatte ich in Marzahn mal einen Imbisswagen, direkt neben einem Jugendclub. Die Jugendlichen waren sehr frech. Sie haben alles kaputt gemacht. Manche liefen einfach in der Gruppe mit. Wenn sie danach allein zu mir kamen und mit mir sprachen, gab es gar keine Probleme. Das verstehe ich bis heute nicht.

Thai Phan, 56, betreibt seit zehn Jahren das Nagelstudio Fa Nails am Helene-Weigel-Platz