Wie die Artefakte ihren Weg fanden

ProvinienzDen Kolonialismus zu erforschen, kann in der Reproduktion kolonialistischer Herrschaftsverhältnisse münden. Um das zu vermeiden, sucht ein Bremer Projekt lieber den Dialog

„Wir suchen Kontakt zu den Communities, versuchen, denoralen Traditionen nachzuspüren“

Sara Capdeville, Bremer Überseemuseum

von Benno Schirrmeister

B steht für Afrika. Und die Ziffer stimmt. Behutsam hebt Sara Capdeville einen kleinen schwarzen Mann aus dem Regal: Das ist Objekt B2572, wie in der Liste vermerkt eine Holzfigur. Sie ist Teil einer Sammlung, die ein heute vergessener Unternehmer – hieß er nicht Coldebusch? – dem Bremer Überseemuseum vermacht hat, 1918 bereits, das ist früh. Coldebusch hatte offenbar in der Kolonie Deutsch-Ostafrika zu tun, und die meisten Gegenstände von dort sind erst in den 1930er-Jahren ins Bremer Museum gelangt, als man dort Stadt der Kolonien sein wollte.

Wie kann man mit diesen Hinterlassenschaften umgehen? Das nun gestartete Provenienzforschungs-Projekt im Überseemuseum scheint eine Möglichkeit: Sara Capdeville erforscht in dessen Rahmen derzeit gemeinsam mit Ndzodo Awono und Christian Jarling dessen Afrika-Bestände. Genauer: Die Herkunft der Artefakte und Naturgegenstände, die zwischen 1884 und 1918 von Deutschen in den dortigen Kolonien erworben wurden, als Geschenke, als Handelsobjekte, als Schnäppchen, als Beute und als Diebesgut.

All diese Formen des Erwerbs hat es gegeben, das sei sicher, sagt Museumsdirektorin Wiebke Ahrndt, die mit dem Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer die Forschung der drei JungwissenschaftlerInnen betreut: „Wir haben uns hier mit sehr vielen Grautönen zu beschäftigen.“ Es wäre falsch, die Herkunftsgesellschaften auf einen Opferstatus zu reduzieren. „Sammeln war keine einseitige Tätigkeit.“ Auszugehen ist von unterschiedlichem Verhalten in den unterschiedlichen Kolonien. Dass der Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwest-Afrika als Zäsur auch beim Erwerb von Andenken sich ausgewirkt hat, davon ist auszugehen.

Kaufmann Coldebusch hatte aus Afrika Fächer mitgebracht und Holzlöffel, aber auch diese Halbmeterfiguren. Sechs sind, in Sütterlinschrift im Eingangsbuch vermerkt, ohne nähere Beschreibung. Eine von ihnen hat das Museum nach Lüneburg, eine nach Sydney abgegeben. Mehr steht da nicht.

Sara Capdeville legt das Holzmännchen sanft auf den Tisch. Sie trägt Baumwollfingerlinge. Zwischen Daumen und Zeigefinger dreht sie den kreisrunden Anhänger hin und her, den B2572 neben seinem Gewehr auf dem Rücken trägt, vermutlich eine Feldflasche. „Es ist nicht klar, ob es ein Europäer sein soll oder ein Askari“, sagt die junge Frau. Askari waren die Einheimischen, die den Kolonialmächten als Soldaten dienten. Die Figur ist aus einem Stück. Bloß unter der Nase sind mit Nägeln zwei Plättchen fixiert: B2572 trägt Schnäuzer. Die Skulptur reagiert in ihrer Machart bereits auf die Begegnung der Kulturen. Unterwirft sie sich? Eignet sie sich etwas an?

Kolonialismus zu erforschen kann in einer Reproduktion der kolonialistischen Herrschaftsverhältnisse münden. Nicht über uns reden, mit uns – das ist die Forderung aus den Staaten, die ins Visier der Europäer gerieten. Das Bremer Projekt sucht daher den Dialog: „Für uns ist nicht nur wichtig, wie die Objekte hier in Deutschland zirkulieren“, sagt Capdeville. „Wir wollen in unserem Projekt auch Feldforschung machen.“ Also in Namibia, in Tansania, in Kamerun versuchen, die Ursprünge der Artefakte zu rekonstruieren, die Möglichkeiten nachzuzeichnen, wie ein Bremer Allerweltskaufmann in Tansania an eine Skulptur wie diese gelangen konnte: „Wir suchen Kontakt zu den Communitys in den Herkunftsländern, versuchen die oralen Traditionen nachzuspüren“, sagt Capdeville.

Während Rückgabeforderungen im Bereich der ethnografischen Sammlungen sehr selten sind, ist man nach Einschätzung von Übersee-Direktorin Ahrndt in den Herkunftsländern sehr interessiert daran, was in Europas Sammlungen geraten ist – und welche Gründe sich dafür ermitteln lassen.

Das wird schwer. Die Erforschung kolonialen Sammelns sei „eine schmerzliche Leerstelle“, hatte Jürgen Zimmerer bei Projektstart vergangene Woche gesagt. Ethnografische Museen haben stets vor allem Alltagsgegenstände erworben. Persönliche Urheber oder Vorbesitzer spielten kaum keine Rolle. Auch wurden die Sammlungen oft ohne die Geschichten ihrer Sammler in die Bestände integriert. Die groß sind: Allein die vorhandenen Hinweise am Gegenstand zu erfassen und die Vermerke in den Katalogen auszuwerten „braucht so zwischen 20 Minuten und anderthalb Stunden“, sagt Capdeville.

Angesichts dessen scheint der Projektzeitraum von vier Jahren knapp: Es geht um beinahe 40 Jahre, um 5.000 Objekte und ihre Geschichten. Das ist nicht bloß eine historische Frage. Es ist eine Frage der Würde.