Der Blick auf den Bosporus, Asien und Europa im Blick: Istanbul Foto: Nilüfer Çetin

Schaut auf diese Stadt

Ausnahmezustand Immer wieder Terroranschläge und politisch zerrissen: Längst hat Istanbul seine Leichtigkeit verloren. Besuche in Berlins Partnerstadt am Bosporus

Von Elisabeth Kimmerle

Der Airbus A321, der an diesem frühen Dezembermorgen am Flughafen Tegel nach Istanbul startet, ist kaum besetzt. Dabei sind die Flüge billig. Noch vor wenigen Jahren waren die Flieger voller Menschen, die zwischen den beiden Metropolen pendeln, und Abenteuerlustiger, die für ein verlängertes Wochenende nach Istanbul flogen. Die Stadt am Bosporus verhieß einen Ausflug in eine andere Welt, die sich zugleich nah anfühlte.

Der Atatürk-Flughafen in Istanbul ist das Brennglas, unter dem hervorsticht, wie es um die Türkei heute bestellt ist. Mit der Stadt, in der ich vor acht Jahren studiert habe, hat das Istanbul von heute nicht mehr viel gemein. Seit den Wahlen im Juni 2015 hat Istanbul seine Leichtigkeit verloren.

Elf schwere Anschläge mit mehr als 280 Toten, Putschversuch, Ausnahmezustand, mehr als 140 inhaftierte Journalisten, 195 geschlossene Medienhäuser, Massenentlassungen – 2016 war ein verheerendes Jahr für die Türkei. Und das neue Jahr verheißt nichts Gutes: Gerade mal eine gute Stunde ist es alt, als der Terroranschlag auf den Istanbuler Nachtclub Reina gemeldet wird. 39 Menschen sterben.

Die Antworten meiner Istanbuler Freunde auf die Frage, wie es ihnen geht, fallen lakonisch aus: Wie soll es mir gehen, sagen sie. Das Leben muss weitergehen, irgendwie. Vielleicht fahre ich deshalb weiterhin nach Istanbul: um zu sehen, dass das Leben dort weitergeht, trotz allem. Viermal war ich im vergangenen Jahr dort. Immer wurde die Lage hoffnungsloser.

März: Drei Terroranschläge gab es bereits in Ankara und Istanbul. Wie meine türkischen Freunde wähle ich meine Wege nach der Wahrscheinlichkeit, dass sich dort niemand in die Luft sprengt: Diese Straße ist nicht symbolträchtig genug; mit dem Dolmuş, einem Sammeltaxi, zu fahren ist sicherer als mit der U-Bahn. So entsteht eine innere Landkarte von Orten in Istanbul, an denen wir den nächsten Anschlag vermuten. Auf der İstiklâl Caddesi, der zentralen Einkaufsmeile in Istanbul, wird unsere Befürchtung wenige Tage später traurige Wahrheit.

Juni: In der Warteschlange vor der Passkontrolle am Flughafen in Istanbul zu stehen fühlt sich nicht gut an. Der Atatürk-Flughafen ist auch auf der inneren Landkarte möglicher Anschlagsziele verzeichnet. Das Auswärtige Amt rät dazu, Menschenmengen zu meiden. Einfach gesagt. Es kann überall passieren, sage ich mir. Und ertappe mich trotzdem dabei, wie ich mich immer wieder nervös umsehe. Eine Woche nach meiner Abreise sprengen sich am internationalen Terminal des Atatürk-Flughafens drei Terroristen in die Luft und töten 45 Menschen.

August: Reise in ein Land im Ausnahmezustand. Die Schlange an der Passkontrolle für internationale Pässe ist endlos lang, die Beamten lassen sich Zeit. Wirken sich die angespannten Beziehungen zwischen der Türkei und der EU am Istanbuler Flughafen aus? Eineinhalb Stunden später, auf dem Weg in die Stadt, passieren wir riesige handgeschriebene Banner, auf denen die Einführung der Todesstrafe gefordert wird. Ich blicke aus dem Fenster des Busses, die vertraute Umgebung nach Veränderungen absuchend.

Auf den Straßen wirkt auf den ersten Blick alles normal. Trotz den massenhaften Verhaftungen von Oppositionellen und den Bombenanschläge leben die Menschen ihren Alltag weiter. Dass in der Türkei gerade nichts normal ist, sieht man an ihren Gesichtern. Mit angespannter Miene und gesenktem Kopf eilen sie durch die Straßen. Eine latente Aggressivität liegt in der Luft – die Folge des Risses, der sich mitten durch die türkische Gesellschaft frisst. Wer sich kritisch über die AKP-Regierung äußert, ist ein Verräter, ein Terrorist. Plötzlich gibt es einen Katalog ungeschriebener Regeln, was man draußen besser nicht tun sollte. Seine politische Meinung zu äußern etwa. Früher spielte sich das Leben in Istanbul auf der Straße ab – heute ziehen sich die Menschen in den privaten Raum zurück. Der öffentliche Raum wird mit jedem Tag enger.

Dezember: Wo im Sommer Hunderte an der Passkontrolle standen, gibt es keine Warteschlange mehr. An den digitalen Anzeigetafeln der Geldwechsler kann man zusehen, wie der Wert der türkischen Lira fällt. Mein Handy zeigt die falsche Zeit an: Im Monat zuvor wurden die Uhren in der Türkei nicht auf die Winterzeit umgestellt. Zwischen Istanbul und Berlin liegen jetzt zwei Stunden. Abends detonieren vor dem Fußballstadion in Beşiktaş zwei Sprengsätze, die Selbstmordattentäter reißen 46 Menschen mit in den Tod.

Pass gut auf dich auf, sage ich zu dem Freund, der mich zwei Tage später zum Flughafen bringt. Es ist nicht nur so dahingesagt.

Jetzt heißt es zusammen­rücken: die Städtepartnerschaft Berlin/Istanbul ▶SEITE 44, 45