Wir sind getroffen

TERROR Nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz hängt ganz Berlin am Smartphone: „Wie geht es euch?“, „Wo bist du?“Taz-AutorInnen erzählen, wie sie den Montagabend erlebt haben – und den Morgen danach

Tag eins nach dem Anschlag: Ein Polizist regelt den Verkehr auf dem Breitscheidplatz Foto: Karsten Thielker

„Mama, was ist passiert?“

Ein merkwürdiges Gefühl: Plötzlich rufen die Istanbuler Freundinnen und Freunde, um deren Sicherheit man sich in den vergangenen Wochen ständig sorgen musste, in Berlin an, um zu fragen, ob bei uns alles okay sei. Ein Berliner Freund, selbst Flüchtling und Muslim, schreibt kurz: „Es tut mir leid“ – als müsse er sich für das, was passiert ist, entschuldigen. Ein Anruf meiner Tochter hatte mich Montagabend aufmerksam gemacht. Sie stand im Stau auf der Tauentzienstraße am Breitscheidplatz: „Mama, hier ist ganz viel Polizei mit großen Waffen – was ist passiert?“

Die Gegend um den Kudamm ist ihr Kiez, dort ist sie zur Schule gegangen, dort geht sie aus, trifft Freunde, dort arbeitet sie, nur ein paar hundert Meter vom Breitscheidplatz entfernt: ein Zuhause, jetzt ein Ort des Schreckens. Dennoch, für mich fühlt es sich nicht an, als sei der Terror näher gekommen. Bagdad, Brüssel, Berlin – es ist eine Bedrohung, es ist eine Welt. AKW

„Wir sind schon am Alex“

Montagabend, 20.44 Uhr, eine SMS vom Mann. „Mach Dir keine Sorgen, wir sind schon am Alex.“ Sorgen? Ich schalte den Fernseher an, und bin schockiert. Der Mann und die Tochter waren in der Deutschen Oper, „Hänsel und Gretel“. Sie wollten hinterher irgendwo am Zoo noch was essen gehen. Gut, dass der Mann selbst noch in der Oper am Puls der Zeit bleibt. Gut, dass ich mir ab und zu eine kleine Pause davon gönne, sonst wäre ich wirklich besorgt gewesen. Als sie ankommen, ist die 8-jährige Tochter schon ziemlich im Bilde. Es war kaum zu vermeiden in der vollen U-Bahn. Sie nimmt es gelassener als wir, dass wir jetzt nicht mehr „weit weg“ sagen können. SM

Die Bilder ignoriert

Um 20.41 Uhr bekam meine Frau eine Whats-App-Nachricht: Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt. Erst nachdem wir einen Film in der ARD-Mediathek zu Ende geschaut haben, haben wir im Netz nachgeschaut. Ich war weder erschrocken noch nervös. Eher ruhig, als wäre etwas, worauf man schon lange gewartet hätte, eingetreten. Und das bei Weitem nicht mit so vielen Opfern wie beim Bataclan in Paris. Allerdings habe ich den ganzen Abend keine Bilder und Videos geguckt, als wollte ich diese Gelassenheit mit ins Bett nehmen. Oft heißt es ja in solchen Fällen, eine Stadt sei geschockt oder rücke zusammen. Ich kann noch gar nicht sagen, wie ich denke, dass die Stadt tickt. Ich weiß ja noch nicht einmal, wie ich selbst ticke. rada

Die Stadt funktioniert

Dienstagmorgen, kurz vor 9 Uhr: An der Kreuzung vor dem Gebäude des Springer-Verlags in Kreuzberg parkt ein Streifenwagen der Polizei mit drei Beamten. Ob sie hier stehen wegen der Ereignisse von gestern Abend, am Breitscheidplatz? „Wir stehen hier wegen der Ampel“, antwortet einer der Polizisten. Irgendwie bin ich darüber mehr irritiert als erleichtert. bis

Panik? Ich doch nicht!

Die Mitbewohnerin ist nicht da. Nicht zu Hause. Das kommt vor. Sie übernachtet häufiger mal bei Freunden. Sie arbeitet in einem Laden unweit des Tauentzien. Meist so bis kurz vor 8 Uhr. Gut 500 Meter östlich vom Breitscheidplatz. Sie hat ab und an dienstliche Einsätze in diesem neuen Luxushotel. 50 Meter westlich vom Breitscheidplatz. Der Weihnachtsmarkt liegt dazwischen, da geht man gern mal nach Feierabend hin. Glühwein trinken mit KollegInnen. Ihr Handy ist aus.

Es ist halb zehn. Ihre Schwester ruft an. Ob ich was gehört habe? Ihr Bruder fragt per WhatsApp. Ob ich was gehört habe? Ihr Vater meldet sich per Telefon. Ob ich was gehört habe? Ihre Großeltern schicken eine Mail. Und eine SMS. Und bequatschen die Mailbox.

Ich beruhige sie. In ihrem Zimmer liegt ein Handy, es sieht alt aus, ich weiß nicht, ob sie das noch benutzt. Aber ich sage ihrer Familie, dass sie ihr Telefon offenbar nur vergessen hat. Zur Beruhigung. Auch für mich selbst.

Kein Wort sage ich ihnen darüber, wie nah der Breitscheidplatz an ihrer Arbeitsstelle liegt. Zur Beruhigung.

Facebook hat einen „Safety Check“ geschaltet. Man kann dort anklicken, dass man in Sicherheit ist. Ein Teil der Community trägt sich ein. Ein Teil regt sich auf, dass Facebook schon von einem „Anschlag in Berlin“ spricht. Ein weiterer Teil findet diese ganze Betroffenheitsaktion übertrieben, doof, unangebracht. Meine Mitbewohnerin ist nicht bei Facebook. Ich habe ihr eine Mail geschrieben. Eine SMS. Eine WhatsApp-Nachricht. Ihr AB ist aus. Eine Freundin aus Kanada fragt an, wie es mir geht.

Die Berliner Polizei twittert um kurz vor 22.30 Uhr die Telefonnummer der Personenvermisstenstelle. Aber wer bin ich denn, dass ich da anrufe. Wer wird denn Panik schieben? Ich rufe an. Um 22.41 Uhr. 22.54 Uhr. 23.19 Uhr. 23.20 Uhr. 23.21 Uhr. 23.44 Uhr. 23.45 Uhr. 23.58 Uhr. 23.58 Uhr. 00.12 Uhr. 00.13 Uhr. Es klingelt acht, zehn Mal. Dann kommt stets eine automatische Ansage. „Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt erneut.“

Eine Kollegin rät mir, die Krankenhäuser abzutelefonieren. Ich versuche zu schlafen. Ich male mir aus, wie es ist, wenn die Polizei vor der Tür steht. Wenn die Bild ein Foto will. Wenn ich ihrem Vater Bescheid geben muss. Wie man es schafft, Ruhe zu bewahren. Rational zu bleiben.

Um 6.34 Uhr kommt eine SMS: „Bin noch an der Ostsee arbeiten, komme heute Nachmittag wieder. Akku fast leer! Was ist passiert?“ theo